Was Vendela Vida mit diesem Roman erschaffen hat, ist Wortmagie im besten Sinne: Bereits nach wenigen Seiten hatte ich quasi eine Zauberbrille auf, durch die ich alles mit den Augen der jungen Protagonistin sah und gleichzeitig fühlte ich mich sehr in meine eigene Zeit als Teenager zurückversetzt. So muss großartige Fiktion für mich sein: Egal wie weit entfernt vom eigenen Erleben eine Geschichte auch spielt, ich möchte bei der Lektüre mit Haut und Haaren darin eintauchen. - In diesem Fall gibt es reichlich Unterschiede, trennen mich von der jugendlichen Protagonistin doch mehr als 40 Lebensjahre, gut 9.000 km Luftlinie (der Roman spielt in San Francisco) und wir sind inGesellschaften und Kulturen aufgewachsen, die sich in vielerlei Hinsicht unterscheiden. Und dennoch war all dies beim Lesen unwichtig, die Story hat mich alles um mich herum vergessen lassen.
Ich spürte auf einmal wieder, wie wichtig es als 13jährige ist, zur Freundesclique dazu zu gehören. Das Gemeinschaftsgefühl ist für Menschen aller Altersklassen von Bedeutung, aber in der Zeit des Heranwachsens spielt es eine besondere Rolle. Und so beginnt Vida ihren Roman sicher nicht von ungefähr mit einem "Wir". Und genau dieses "Wir" zerbricht, als die junge Eulabee eine Lüge ihrer besten Freundin nicht mitträgt, sondern ihr öffentlich widerspricht. Die soziale Ausgrenzung folgt auf dem Fuß, und folgerichtig wechselt die Autorin auch erzählerisch in die Ich-Perspektive, als Eulabee allein und ohne Freundinnen dasteht.
Trotz dieser Handlung ist "Die Gezeiten gehören uns" weit mehr als ein Coming-of-Age-Roman. Es ist auch eine Geschichte über kleine und große Lügen, vom schönen Schein und dem wahren Sein. Dies bringt Vida wiederholt und nahezu beiläufig unter, etwa wenn sie davon erzählt, dass Sea Cliff eines der ersten Viertel San Franciscos mit unterirdisch verlegten Stromleitungen war, und dies wie folgt trocken bemerkt: "Alles Hässliche ist versteckt."
Und auch wenn die Geschichte Mitte der 1980er Jahre spielt , sie ist aktueller denn je, machen es doch Online-Medien nicht immer einfach, Wahrheit und sogenannte fake news voneinander zu unterscheiden. Und für Viele scheint die Selbstdarstellung auf ihren Social-Media-Kanälen wichtiger zu sein, als das reale Erleben, das klingt im Epilog des Romans an.