Der wenig komplexe Inhalt von „Mrs. Fletcher“ lässt sich mit den Worten der Protagonistin besser zusammenfassen als ich es jemals könnte:
„Sie hatte zu viele Pornos geschaut und damit ihre Fantasie infiziert, sie hyperbewusst für sexuelle Möglichkeiten gemacht, die noch in den allerunschuldigsten Situationen steckten.“ – Seite 157
Sie, das ist Eve Fletcher, die 46-jährige Protagonistin dieses Romans von Tom Perrotta. Eve ist der Schrift gewordene Traum eines jeden ebenso triebgesteuerten wie sexistischen Macho-Mannes: Sie geht in ihrer Rolle als überfürsorgliche Hausfrau völlig auf, widmet sich mit Hingabe der Wäsche ihres mittlerweile leider erwachsenen Sohnes, bereitet überdies hervorragendes Steak zu, sie hat sämtliches Videomaterial in der „Milfateria“ (= Pornoportal) eingehend studiert und wenn man lieb fragt, schickt sie nachts auch gern einmal ein paar Nacktfotos per SMS. Denn Eve ist heiß und für jedes sexuelle Abenteuer zu haben. Eve ist eine MILF. Und Eve liebt das Risiko. Man fragt sich da irgendwann unweigerlich:
„War sie wirklich so einsam, so verzweifelt auf der Suche nach sexuellem Kontakt? Es war Irrsinn, ein solches Risiko einzugehen – den Job aufs Spiel zu setzen, ihr Haus, das Studium ihres Sohnes – nur, um eine Nacht lang so zu tun, als lebe sie in einem Pornovideo.“ – Seite 173 (kleiner Spoiler: Die Antwort lautet „Ja“.)
Wer sich nun vor Spannung kaum noch auf den Beinen halten und gemeinsam mit dem SPIEGEL laut „hinreißend“ rufen möchte, dem möge ich diesen Titel nur sehr nahelegen.
Mich persönlich konnte Tom Perrotta leider nicht abholen. Zwar mögen seine Wortgewaltigkeit und seine vertieften Recherchen im Bereich Erotikvideos durchaus beeindruckend sein; es gelingt ihm auch ganz hervorragend und mit beispielloser Eleganz, Akronyme wie eben jenes der „MILF“ (= Mum I´d like to fuck) mit inflationärer Häufigkeit in den Text einfließen zu lassen. Doch leider empfand ich Tom Perrottas Geschichte nicht als „rasend komisch“, wie der Klappentext sie beschreibt, sondern vielmehr als die hochnotpeinliche sexistische (sexuelle) Fantasie eines Mannes in der Midlife-Crisis, der sich fern jedes Niveaus tief in der Klischeekiste bedient.
Zwar versucht der Autor gesellschaftskritische Töne anzuschlagen und Themen wie Autismus, Selbstliebe, Gender und Transsexualität aufzugreifen, arbeitet diese jedoch lediglich schematisch und oberflächlich ab. Für eine vertiefte Auseinandersetzung mit diesen sehr wichtigen und spannenden Fragen ist leider im Rahmen der alles durchdringenden Porno-Fantasien des Autors kein Raum geblieben. Denn schließlich musste es auch in dem Seniorenheim, in dem die Protagonistin Eve arbeitet, heiß hergehen. Doch mehr will ich an dieser Stelle gar nicht verraten…
Wenn wir die Protagonistin nicht gerade beim Pornos Schauen oder einem flotten Dreier mit einwilligungsunfähigen Personen erwischen, dann betrinken entweder sie oder ihr Sohn Brendan sich bis zur Besinnungslosigkeit. Nahezu jeder Erzählungsabschnitt aus Brendans Sicht beginnt mit der Einleitung, dass Brendan am fraglichen Tag einen „heftigen Kater“ hatte. Exzessiver Alkoholkonsum wird in „Mrs. Fletcher“ als Instrument intensiven menschlichen Kontakts regelrecht verherrlicht.
Auch das unsaubere Lektorat dieses Romans, der diverse Tippfehler und vertauschte Wörter aufwies, passte gut ins Gesamtbild dieser außergewöhnlichen Darbietung.
Schließen möchte ich daher nun abermals mit einem anschaulichen Zitat, das meine persönliche Leseerfahrung sehr prägnant auf den Punkt bringt:
„Lass uns so tun, als es wäre nie passiert“ [sic!] – Seite 318