Breite Sicht auf die Entwicklung des „christlichen Abendlandes“
Zunächst sei vorweg erwähnt, dass Tom Holland sicherlich auch als Thriller Autor oder Romancier reüssieren würde, so packend, flüssig und dem Leser immer wieder Situationen wie konkrete Bilder vor Augen stellend schreibt Holland schon vom Stil her. So verwundert es nicht, dass bereits das Vorwort ebenso als Prolog eines historischen Romans oder Thrillers durchgehen würde. Und doch lässt es Holland hinter seiner überaus leicht verständlichen und populären Sprache in keiner Weise an fundiertem Wissen über das Objekt seiner Darstellung missen. Auch wenn, der Intention seines neuen Werkes getreu, eher der „große Überblick“ mit dann je Vertiefungen zu bestimmten Ereignissen, vor allem aber zentralen Personen der abendländischen Geschichte.
Wobei sich Holland sicher nicht ohne Hintergedanken im Buch in der Weise seinem Objekt nähert, dass die Hinrichtung mittels der „Kreuzigung“ vor den Toren Roms umgehend geschildert und erwähnt wird. Denn am Ende ist die Kreuzigung jener geistesgeschichtliche und, später, dogmatische Nährboden, auf dem sich „der Westen“ (das „Abendland“) bis in die Gegenwart hinein entfaltet hat und bis in den Kern massiv geprägt worden ist.
Und gerade, weil, entgegen aller antiken Vorstellungen, hier „göttlich“ wurde, was in Schimpf und Schande den Sklaventod sprach (Göttlichkeit war keine Seltenheit in der damaligen Vorstellungswelt, aber ausschließlich und immer nur Helden und den „Größten der Großen“ vorbehalten). Eine Grundlegung für eine darauf folgend zu gründende Gesellschaft, die der dieser religiösen Sicht zufolge andere als nur „darwinistische“ Werte fast ja schon entfalten musste. Eine Entwicklung, die Holland mit in den Mittelpunkt seiner Schau über die Jahrhunderte hinweg stellt und Schritt für Schritt bis in die Gegenwart hinein deren Wirkungen in der „Seele der (westlichen) Menschen“ aufzeigt. Die Kraft, sich „mit dem Leiden seines Gottes“ identifizieren zu können hatte dabei nicht selten Folgen in der Duldung selbst starker Bedrängungen, die Bereitschaft, den Glauben über das eigene Leben zu stellen bis hin zur (geforderten) „tätigen Nächstenliebe“ oder mit Gedanken der „Heiligkeit“ seine Aufgaben im Leben als Herausforderungen anzunehmen. Werte, die nicht unbedingt in ihrem wörtlichen Sinne, durchaus aber im Durchhaltevermögen und der Übernahme auch von anstrengenden Pflichten eine neue Kraft in die Entwicklung der Gesellschaften des Abendlandes setzten.
Aus welchen Traditionen sich dieses Christentum speiste, wie es ganz aus der Gedankenwelt der Antike entsprang und doch in sich eine fundamentale Kraft zur Transformation trug, all das schildert Holland unterhaltsam, sachkundig und in den großen, zusammengehörenden Linien durch die Zeiten hinweg.
Am Ende dann kann der Leser durchaus den Analysen Hollands folgen, der den „Westen“ in der Moderne und Gegenwart nicht als „Erbe“ des Christentums betrachtet, sondern als dessen „Fortsetzung“. Und das tatsächlich vielfach nur oberflächlich mit „anderen Mitteln“. Selbst die Grundhaltungen und vielfache Teile der „Methode Christentum“ beeinflussen den Alltag in der Gegenwart noch deutlich mehr, als man gemeinhin annehmen möchte.
„2000 Jahre nach der Geburt Christi muss man nicht an seine Auferstehung glauben, um von dem beachtlichen, um nicht zu sagen unausweichlichen des Christentums geprägt zu sein“. Was am Ende gar für den „fehlenden Glauben“, den Atheismus ebenso gilt, der im Spiegel des christlichen Glaubens entstanden ist und eine weitere Seite dessen Medaille eher darstellt als einen völlig neuen Ansatz. Denn am Ende, kurz gesagt, mit den Worten Hollands, geht es „um die größte Geschichte aller Zeiten“. Die von Athen, Jerusalem, dem Glauben an einen „Himmel“ ausgeht und bei „Pulp Fiction“ noch lange nicht endet. Das als bahnbrechender Film vor allem mit jenen Tabus spielt, die das Christentum seit Paulus Zeiten mit aller Macht bekämpfte. Das „freie Laufen der Gelüste“ durch die „Regulation jeden Begehrens“. Insofern ist auch Pulp Fiction, wie manch anderer populäre Kunst der Gegenwart (interessant auch die Deutung von „The Handmaids Tale“) genuin im Rahmen des christlichen Glaubens ebenfalls angesiedelt. Als Gegenpol, aber was wäre ein solcher ohne „Pol“? Und so gehört die Sexualgeschichte mit hinein in diese „Schau auf die Jahrhunderte“.
Eine anregende, temporeich zu lesende und sehr verständliche Lektüre, die aufzeigt, auf welchem Fundament auch heute noch „der Westen“ steht. Im Kern auf gekreuzigten Füßen.