Rezension zu "Italien" von Thomas Steinfeld
Hast Du schon was gegessen, mein Sohn?
Italia ist nicht nur bella: Thomas Steinfelds kluges Porträt eines rätselhaften Landes
Das Schöne und das Hässliche, das Vertraute und das Befremdliche. Der promovierte Germanist, Musikwissenschaftler und Kulturjournalist Thomas Steinfeld, Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, für die er von 2013 bis 2018 aus Venedig berichtete, zieht in seinem geradezu literarischen Italien-Porträt eine ebenso beeindruckende wie ernüchternde Bilanz seiner italienischen Erfahrungen, Erlebnisse und Erkenntnisse.
Zitat aus dem Prolog: „Das Land ist anders, als es die Leidenschaft für Italien je wahrhaben wollte.“ Achtzehn anspruchsvolle Etappen umfasst dieser Höhen und Tiefen souverän meisternde Giro d’Italia. Steinfelds Reisen über fünf intensive Jahre führen uns um den langen, schmalen Stiefel von Piemont über die Westküste durch Ligurien über die Toskana, Kampanien bis tief in den Süden nach Sizilien. Entlang der adriatischen Ostküste geht die Grand Tour über die Marken, Emilia Romagna, Venetien/Friaul und Lombardei zurück in den Norden. Dabei lernen wir die regionalen Besonderheiten sowie Städte wie Turin, Genua, Florenz, Siena, Rom, Neapel, Bologna, Triest, Venedig und Mailand mit ihren historischen Plätzen und kulturellen Schätzen, aber auch die brennenden Probleme des „Bel Paese“, des schönen Landes kennen.
So greift der Autor die von dem Journalisten Mario Giordano mit seinem Bestseller „Italien ist nicht mehr italienisch!“ befeuerte öffentliche Debatte über den drohenden Ausverkauf des Landes auf. In der Tat: Der Turiner Automobilkonzern FIAT, die Modefirma Versace, die alten Palazzi an der muschelförmigen Piazza del Campo in Siena, die Gastronomie „in der untergehenden Arche“ Venedig, die besten Weingüter in der Toskana oder die Mailänder Fußballclubs Inter und AC sind in ausländischer Hand.
Doch neben wirtschaftlichem Niedergang, Regierungskrisen, Naturkatastrophen, Jugendarbeitslosigkeit, Flüchtlingsdesaster, Mafia und Rechtspopulismus gibt es ja zum Glück noch die Italianità. Ausdruck jener italienischen Lebensart, von der die Sehnsuchtsdeutschen seit jeher schwärmen. Diese Liebe geht nicht zuletzt durch den Magen. Die „cucina italiana,“ die vielgerühmte italienische Küche, hat sich aus der Vielfalt der kleinbäuerlichen Landwirtschaft entwickelt und z. B. in der „Slow Food“-Bewegung manifestiert, die das regionale Erbe der vorindustriellen Agrarkultur bewahren und weiter entwickeln will.
Das gemeinsam zelebrierte Essen hat immer noch eine immense soziale Bedeutung. Wenn die Mamma aus Palermo ihren Sohn in Mailand anruft, fragt sie ihn zuerst: „Hast Du schon was gegessen?“ Elementar für das gesellschaftliche Leben sind auch die öffentlichen Plätze, deren schönste – wie die von Steinfeld beschriebene Piazza del Popolo mit dem Jugendstil-Café „Anisetta Meletti“ in Ascoli Piceno – meist in der Provinz liegen. Dazu gehört auch unweigerlich die Bar: „Das fließende Ineinander des Gehens und des Stehens“. Am Tresen, „einem Ort der plötzlichen Intimität“, machen die Passanten mit ihrem heißgeliebten Caffè-Konzentrat in zwei, drei Zügen aus der Piccolotasse kurzen Prozess.
Am Schlager scheiden sich die deutschen und italienischen Geister. Das vor 70 Jahren erstmals ausgetragene „Festival di Sanremo“ vereint wie kaum ein anderes Ereignis ganz Italien vor den TV-Bildschirmen. O-Ton Steinfeld: „Und immer sind da ein Schmerz, der Halt in der Schönheit der Melodie sucht, eine Stimme, die bricht, und unzählige Italiener, die den Text des Gewinnerliedes auswendig können.“ Beim Sanremo-Festival 2019 nannte der damalige Innenminister Matteo Salvini, Chef der rechtsnationalistischen „Lega“, den Sieg des jungen Mailänder Migranten Mahmood mit dem poetischen Lied „Soldi“ (Geld) einen „Verrat am Willen des Volkes“. Dazu der Autor: „Eine solche Auseinandersetzung hätte es nicht gegeben, wäre der italienische Schlager nur ein Schlager und das Festival von Sanremo nur ein Schlagerwettbewerb.“
Überhaupt bezieht der studierte Musikwissenschaftler, der selbst in einer Jazzband spielte, zum tieferen Verständnis sich immer wieder auf Literatur, Musik, Film, Kunst, Architektur und Geschichte, spannt elegant den Bogen zwischen Alltags- und Hochkultur. Unter den vielen Protagonisten in Steinfelds italienischem Kosmos taucht mit am häufigsten der Name des Regisseurs, Schriftstellers und Publizisten Pier Paolo Pasolini auf. Aus gutem Grund. Kaum ein Intellektueller hat das Land so oft bereist, in seinen Widersprüchen erkundet und so radikal den Finger in die Wunden gelegt wie der 1975 ermordete Wahlrömer aus dem Friaul. In der vom Autor besuchten „älter als alten“ Höhlenstadt Matera, Kulturhauptstadt Europas 2019, drehte Pasolini sein 1964 erschienenes Meisterwerk „Das 1. Evangelium – Matthäus“, laut FAZ „vielleicht das einzige wirkliche Wunder des Bibelkinos“.
Was würde der „Franziskus der Vorstädte“ (Steinfeld), der mit Filmen wie „Accatone – Wer nie sein Brot mit Tränen aß“ und „Mamma Roma“ das römische Subproletariat ehrte, heute wohl über den Alarmzustand und die Heimsuchung Italiens durch die Corona-Krise mit den zweitmeisten Todesopfern in Europa sagen? Thomas Steinfelds „exzellentes, bemerkenswertes Buch über Italien“ (Corriere della Sera) ist unmittelbar vor dem verheerenden Ausbruch der Pandemie in Norditalien erschienen. Sein fundiertes, nuanciertes, auch als Reisebuch lesbares Porträt weist über dieses – dank Impfstoff hoffentlich bald überwundene – kollektive Trauma hinaus und führt uns unter die touristische Oberfläche von „Dolce vita“, „O Sole mio“ und „Bella figura“ tief hinein ins rätselhafte, faszinierende Innere Italiens.
Joseph Weisbrod
Info: Thomas Steinfeld: „Italien – Porträt eines fremden Landes“. 448 Seiten. Gebunden. Rowohlt Verlag, Berlin. 25 Euro.