Der „Wettlauf ins All“ zählt zu den bedeutendsten Kapiteln des Kalten Krieges zwischen den beiden Großmächten des 20. Jahrhunderts, den Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion. Welcher der beiden erbitterten Rivalen würde es zuerst schaffen, zunächst eine funktionierende Rakete, dann einen Menschen, ins Weltall oder später sogar auf den Mond zu bringen?
Nun, der Ausgang dieses jahrelangen Wettrüstens ist mittlerweile hinlänglich bekannt, geht es nach Sylvain Neuvels Roman „A History of What Comes Next“, dann haben sich die Ereignisse auf dem Weg in die Geschichtsbücher aber vielleicht anders zugetragen, als man bisher annahm. Im spekulativen Science-Fiction-Werk des Kanadiers hat nämlich eine höhere Macht die damaligen Geschehnisse maßgeblich beeinflusst: die Kibsu, eine weibliche Alien-Rasse, die seit Jahrtausenden ihr mächtiges Wissen von Generation zu Generation weiterträgt. Hinter diesem epochalen Unterfangen steht vor allem ein großes Ziel: die Menschheit zu den Sternen zu bringen.
Warum dies für die Kibsu so wichtig ist, darum macht Neuvel in seiner Geschichte aber ebenso ein Geheimnis wie um den Ursprung der als Menschen getarnten Geschöpfe. Dafür gehören aber immerhin die beiden Hauptfiguren zu der mysteriösen außerirdischen Rasse, nämlich die 99. und 100. Generation der Kibsu: die junge Mia und ihre Mutter Sarah. Auch diese beiden arbeiten fieberhaft an der großen Mission, die Menschheit ins Weltall zu bringen, und sie befinden sich dafür in einer alles entscheidenden Epoche: dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Das Deutsche Reich der Nationalsozialisten ist zum Zeitpunkt der Handlung bereits dem Untergang geweiht, doch die Nazis verfügen über einige brillante Wissenschaftler, welche die Geschichte der Raumfahrt maßgeblich beeinflussen und vor allem beschleunigen könnten, allen voran der berühmt-berüchtigte Raketentechniker Wernher von Braun. Im Auftrag des amerikanischen OSS, der Vorgängerorganisation der CIA, soll Mia nun alles daran setzen, das deutsche Genie zum Überlaufen zu bewegen, um von dessen Kenntnissen und Fähigkeiten zu profitieren und den Wettlauf gegen die Sowjets zu gewinnen.
Eines muss man Sylvain Neuvel lassen: bisher wusste der Kanadier immer mit originellen Romanideen für Neugier zu sorgen, egal ob bei seiner Roboter-Trilogie „The Themis Files“ oder der Novelle „The Test“, einem nicht weniger kreativen Gedankenexperiment. Allerdings ließ die Ausführung dieser Ideen immer ein wenig zu wünschen übrig – und leider ist das auch bei „A History of What Comes Next“ nicht anders. Auch hier blitzen immer wieder gelungene Momente auf, die das Potenzial dieser Geschichte erahnen lassen, allerdings verläuft die Handlung insgesamt zu schleppend und die wirklich spannenden Episoden spielen sich oft zwischen den vielen Zeitsprüngen ab, ohne das man als Leser:in jedoch direkt dabei ist. So fällt es auch schwer, eine emotionale Bindung zu den beiden Hauptfiguren aufzubauen, eben weil es in der Entwicklung der Charaktere einfach zu viele Lücken gibt.
Das ist schade, denn was Neuvel wirklich hervorragend gelingt, ist die Integration seiner fiktiven Geschichte in die tatsächliche Historie des „Space Race“. So sind viele reale berühmte Persönlichkeiten ein Teil von Mias Abenteuer, neben bereits erwähntem von Braun zum Beispiel sein sowjetischer Gegenpart, Weltraumpionier Sergei Koroljow, oder Stalins langjähriger Geheimdienstchef, der für seine Brutalität berüchtigte Lawrenti Beria. In diesen Passagen erweckt der Autor eine große Lust, sich mit diesen Kapiteln des Kalten Kriegs näher auseinanderzusetzen, und fast folgerichtig ist auch das ausführliche Nachwort mit historischen Erläuterungen eigentlich spannender als die eigentliche Geschichte. Somit bleibt „A History of What Comes Next“ leider hinter den Erwartungen zurück, allerdings soll die Geschichte der Kibsu noch in zwei Folgebänden weitererzählt werden – vielleicht schöpft Sylvain Neuvel ja dort noch mehr vom Potenzial seiner spannenden Grundidee aus.