Rezension zu "Der Riese, der mit dem Regen kam" von Stefan Boonen
Albert Loblos, gerade elf Jahre alt, lebt mit seiner Mutter und den fünf Schwestern im Sommerhochhaus. Die Sommerferien beginnen gerade und ihm steht eine langweilige Zeit bevor. Seine Mutter setzt alles auf Alberts Schwestern, die sie von Casting zu Casting jagt, in der Hoffnung, dass mindestens eine von ihnen groß rauskommt und sich damit die finanziellen Sorgen der Familie von selbst erledigen. Für Albert hat sie nichts übrig und hält es für einen Irrtum, dass ausgerechnet er ihr Sohn sein soll.
„Sogar deiner Mutter bist du egal.“
„Das stimmt nicht!“ Albert sah sie wütend an.
„Träum ruhig weiter“, zischte Frau Urgel. (Seite 83)
Einen Hoffnungsschimmer gibt es, als am Abend des ersten Ferientages Kalinda mit ihrer Mutter und deren Freund ins Hochhaus einzieht. Vielleicht können Kalinda und Albert Freunde werden?
In der folgenden Nacht regnet es und Kalinda kann in der ungewohnt lauten Umgebung nicht schlafen. Mitten in der Nacht sieht sie aus dem Fenster und meint plötzlich, die Dunkelheit würde sich bewegen. Oder die Brücke. Oder ist da etwa ein Riese? Als sie sich endlich wieder beruhigt hat („Riesen gibt’s nicht“, Seite 23), findet sie doch noch in den Schlaf. Ein paar Etagen höher kann auch Albert nicht schlafen und starrt aus dem Fenster. Er jedoch zweifelt nicht an dem, was er sieht und wittert seine große Chance.
„Stell dir nur vor. Ein Foto von ihm und dem Riesen! Das war echt eine Geschichte. Die Leute könnten sich gar nicht daran sattsehen. Wie sie ihn bewundern würden, ihn umarmen und feiern würden.“ (Seite 24)
Am zweiten Ferientag begegnen sich die beiden Kinder erneut und stellen fest, dass sie beide das Gleiche gesehen haben. Sie beschließen, sich auf die Suche nach dem Riesen zu machen. Ob sie ihn finden werden und was es mit dem Sommerhochhaus auf sich hat, können junge Leser auf insgesamt etwa 250 Seiten entdecken.
Was mir beim Lesen sehr gefiel, sind die fein gezeichneten Charaktere, die dieses Kinderbuch lebendig machen. Sei es die mürrische Frau Urgel aus der neunten Etage, die einmal in der Woche ihrem Hund Moppel einen so kräftigen Tritt verpasst, dass er über das Balkongeländer in den Teich vor dem Hochhaus fällt oder die nette Rosie, die im fünften Stock ihren kleinen Tante-Emma-Laden betreibt.
Sehr bedrückend ist, wie sehr Albert von seiner Mutter und den Schwestern ignoriert wird. Er möchte gern wissen, wie sein Vater ist – ob er ihm vielleicht ähnlich ist, wenn seine Mutter ihn schon für einen Irrtum hält -, aber sein Vater wird tabuisiert in der Familie. Zum Glück gibt es im Hochhaus ein paar Bewohner, die ihn sehr mögen und immer wieder ermutigen, aber durch die verquere familiäre Situation ist er im Großen und Ganzen mutterseelenallein.
Die Illustrationen sind sehr gelungen und greifen in den verschieden gewählten Farbbereichen die im Text transportierten Stimmungen wunderbar auf.
Diese fantasievolle Geschichte ist sowohl spannend als auch warmherzig erzählt und lädt die Leser zum Träumen ein. Sie macht Mut, nicht aufzugeben, auch wenn die Lebensumstände nicht rosig sein mögen.
Persönlich würde ich das Buch Kindern ab etwa neun Jahren empfehlen.
(Ursprünglich im Blog veröffentlicht: 25.06.2016)