Sorj Chalandon, Verräterkind, dtv 2022, 303 Seiten
Im Roman Verräterkind schildert Chalandon parallel seine Teilnahme als Journalist am Prozess gegen Klaus Barbie im Mai 1987 und seine Nachforschungen über das Leben seines Vaters im 2. WK.
Anlass für die Nachforschungen sind für Chalandon die Bemerkung seines Großvaters, der Vater habe 'im Krieg auf der falschen Seite gestanden'. Chalandon wird bewusst, dass sein Vater zwar viel über seine Teilnahme am Krieg erzählte, aber bei näherer Betrachtung alles undurchsichtig und zeitlich und sachlich nicht korrekt sein kann.
Der Vater nimmt als Zuschauer ebenfalls am Prozess gegen Barbie teil. Chalandon beobachtet ihn, wie er da sitzt und Grimassen schneidet, zustimmend nickt, wenn Barbie oder dessen Anwalt etwas sagen, aber genau wie Barbie die Aussagen der vernommenen Zeugen als unwichtig ignoriert.
Als Leserin machte der Vater auf mich einen unausgeglichenen Eindruck, ein Mensch, der über seine Vergangenheit lügt, sich aber schlimmer darstellt als er war (er behauptet, Nazi gewesen zu sein) und der stets bestrebt ist, alles im Dunklen zu halten.
Chalandon hingegen will alles aufklären, das Leben seines Vaters verstehen, nachzeichnen, beurteilen. Und er hakt nach, besorgt sich über einen Freund die Akte seines Vaters aus der Zeit des 2. WK und konfrontiert ihn mit diesem Wissen. Sie begegnen sich vor dem Gerichtsgebäude, nach den Prozesstagen, und es kommt zu Handgreiflichkeiten zwischen ihnen und zu verbalen Attacken.
Interessant war die Wirkung des Textes auf mich. Chalandon versucht mit allen Mitteln, seinen Vater zu entlarven, um eine Schuld oder Versagen dieses Mannes aufzudecken. Dabei stellte ich mir immer öfter die Frage, ob Chalandon das Leben des Vaters überhaupt etwas angehe. Nicht als Journalist, sondern privat, als Sohn. Es ist einfach, im Nachhinein jemanden zu verurteilen für seine fehlende Haltung. Der Vater war ein Mann ohne Schulabschluss, ohne Perspektive, der in den Krieg gespült wurde, ständig die Seiten wechselte und sich immer, wenn es gefährlich wurde, herauszog. Er war damit beschäftigt, sein Leben zu retten, es für sich positiv zu definieren und schämte sich dann später für sein Verhalten, weshalb er Geschichten erfand. Und der Sohn, als ein im Frieden Aufgewachsener und Lebender, der einen erfüllenden Beruf gefunden hat, will aus dieser bequemen Position heraus alles aufdecken und beurteilen. Aburteilen.
Ein wichtiger Aspekt des Textes ist das Erinnern. Barbie sagt an einer Stelle, er wisse zu bestimmten Begebenheiten nichts, das sei 'alles lange her' (ca. 30 Jahre); die Zeitzeugen, die während des Prozesses befragt werden, erinnern sich zum Teil auch nicht mehr genau, was aber Barbie und der Vater erwarten, ansonsten seien sie unglaubwürdig; und Chalandon erwartet von seinem Vater, dass der sich genau erinnere, an seine Motive, Taten, Handlungen.
Der Text ist insgesamt sehr packend geschrieben und in seiner Attraktivität ebenbürtig dem Widersacher von Emmanuel Carrère.