Dieses Buch hat mich herausgefordert, traurig und wütend zugleich gemacht. Es hat mich stellenweise fassungslos den Kopf schütteln und, als sei das noch nicht genug, halb verzweifeln lassen. Es tat beim Lesen manchmal weh, war sprachlich so verworren, erzählerisch so langatmig, dass ich innerlich mit mir kämpfte, das Buch überhaupt weiterzulesen und nicht in die nächstbeste Ecke zu hauen. Und dennoch oder vor allem deswegen! Am Ende ergab alles einen Sinn, wurde zu einer runden Geschichte, die mich packte und schließlich sogar doch wahnsinnig faszinierte. „Wow! Was für eine Achterbahnfahrt der Gefühle“, war mein erster Gedanke nach dem finalen Satz des Romans, bevor sich die Frage anschloss, „Was war da eigentlich los?“
Eine kurze Spurensuche:
Sarah Strickers Debütroman „Fünf Kopeken“ ist keine leichte Kost und auch keine Liebesgeschichte im konventionellen Sinn. Ich verstehe das Ganze eher als Einladung, einmal darüber nachzudenken, was im Leben wirklich zählt und sich am Ende vielleicht selbst auf die Suche zu begeben, wer man ist und wer man überhaupt sein möchte. Gleichzeitig thematisiert der Roman „Kriegskind bzw. -enkel“ zu sein, welche Bürde das sein kann, und gibt ein Beispiel dafür, wie das Leben, trotz großer Pläne und tollster Verheißungen, am Ende doch ganz anders verläuft. Und überhaupt (jetzt greife ich ein wenig vor), was macht das eigentlich mit einem Kind, wenn die Eltern ihre Wünsche sowie Erwartungen bereits von Geburt an (oder sogar schon davor) dem Kind überstülpen, es nicht Kind sein lassen, es nicht um seiner Selbstwillen lieben können und ihm auch keinen Freiraum lassen, die eigene Identität zu entwickeln?
Die Handlung und die Figuren:
Erzählt wird der Roman aus der Ich-Perspektive von Anna. Sie wiederum gibt die Memoiren ihrer Mutter wieder, die, vom Krebs gezeichnet, ihrer Tochter auf dem Sterbebett ihre Lebensgeschichte gebeichtet hat. Die Mutter selbst erhält im Roman keinen Namen, wird immer nur „Mutter“ genannt und bleibt damit von Beginn an traurig-seltsam identitätslos.
In den ersten Kapiteln wird zunächst der familiäre Hintergrund der Mutter beleuchtet. Da ist zum einen der Patriarch der Familie, Oskar Schneider, der früher „mit wehenden Fahnen in den Krieg gezogen ist“ und nun ein erfolgreiches Modeunternehmen führt. Zum anderen Hilde Schneider, Mutter der Mutter, die als einzige ihrer Familie den Krieg überlebt hat, aber seitdem von der Angst regiert wird. Und die Mutter der Ich-Erzählerin selbst, „die zu hässlich war, um dumm zu sein“. So konnte sie bereits mit fünf Jahren lesen. „Vielleicht auch schon mit drei oder vier.“ Noch bevor sie richtig laufen konnte, sprach die Mutter vier Fremdsprachen fließend. „Fünf – verbessert der Großvater – und das ist Gesetz!“ Von Beginn an wird die Mutter wie eine Erwachsene behandelt. „Unschuld und Sorglosigkeit blieben Mutter dank Großvater fremd.“ In den ersten Jahren passte so kein Blatt zwischen die beiden, ihre Mutter lernte die Mutter wiederum schnell zu ignorieren. Auch Austausch mit anderen Nachkriegsgeborenen, andere Einflüsse gab es kaum. Der Kontakt zu Gleichaltrigen musste vermieden werden. So mästete Oskar Schneider „sein Ego an den Wundertaten meiner Mutter und je mehr es anschwoll, desto hungriger wurde er.“ An anderer Stelle folgt die Frage: „Gibt es eigentlich etwas, was das Kind nicht kann?“ – „Klar doch. Versagen“, ertönt es daraufhin fast höhnisch als Antwort.
Doch das dicke Ende kommt erst noch:
Ich muss sagen, dass ich beim Lesen der ersten Kapitel glaubte, in einer bissigen Satire zu stecken, die einerseits tragisch, aber andererseits auch irgendwie komisch war. Ab Kapitel drei kippte der Ton dann jedoch und die Stimmung gleich mit. Es kam zu einem Bruch, genau an der Stelle, als Gefühle ins Spiel kamen und sich die Unfähigkeit der Mutter offenbarte, eben mit diesen umzugehen. „Sie war der Liebe unfähig und auch mit dem Hass tat sie sich schwer.“ Von beiden wurde sie dann förmlich überrollt. Und neben der Verwirrung, die nun im Roman einsetzte, und die für mich im Nachhinein sinnbildlich für das Chaos innerhalb der Mutter steht, breitete sich darüber auch noch ein Gefühlsteppich von unendlicher Traurigkeit aus. Ja, Annas Mutter tat mir spätestens hier wahnsinnig leid. Warum?
Sie mag als Figur hochintelligent und als Heranwachsende noch so erfolgreich in allen Aufgaben zu sein, die ihr aufgetragen werden. Hinsichtlich der Ausbildung sozialer Fähigkeiten und Kompetenzen ist sie gnadenlos unterentwickelt. Und das rächt sich schließlich: Sie vernarrt sich eines Tages in Alex, einen Ukrainer, während sie mit Arno, der sie aufrichtig liebt, verbandelt ist. Die Mutter ist so verrückt nach Alex, der im selben Haus wie sie und Arno wohnt, dass sie irgendwann ihren ersten One-Night-Stand mit ihm auf einem Spielplatz in einem Rutschbahnhäuschen hat und auch danach die Finger nicht von ihm lassen kann. Völlig egal, wie sehr er sie zurückstößt, nicht beachtet und erniedrigt … Der Drang nach Liebe und Beachtung, der schon als Kind nicht gestillt wurde, scheint einfach zu groß zu sein und sich im Leben der Mutter nun förmlich Bahn zu brechen. Die Liebe hingegen, die bedingungslos zu bekommen ist, ist nichts wert, weil sie nicht erkämpft werden muss, oder doch? Wie fühlt sich eigentlich so eine obsessive Liebe an? Was macht sie mit einem Menschen und dessen Leben? Und mit den Menschen um ihn herum? Kann das alles gut gehen? Wer das herausfinden will und noch viel mehr, beispielsweise auch, was es mit dem Buchtitel auf sich hat, muss „Fünf Kopeken“ unbedingt selbst lesen.
Mein abschließendes Fazit:
Dranbleiben lohnt sich! - … wie bereits zu Anfang erwähnt. Der Roman besticht für mich durch seine Tiefe und die fein herausgearbeiteten Figuren. Zwar fällt es schwer, diese beim Lesen zu mögen, doch ihre einander bedingende Geschichte berührt, zieht einen in ihren Bann und lässt einen nicht mehr los. Deshalb fünf Sterne und eine absolute Leseempfehlung meinerseits.