Rezension zu "Die Symphonie der Sterne" von Ruth Kornberger
In "Die Symphonie der Sterne" geht es um die Astronomin Caroline Herschel (1750-1848). Die Autorin Ruth Kornberger strickt die Romanbiografie clever um ein Rätsel: Herschel hat zeitlebens Tagebuch geführt, aber ihre Erlebnisse mit 40+ Jahren hat sie vernichtet. Was geschah in diesen 9 Jahren? Kornberger füllt die Leerstelle schlüssig. Der Roman nähert sich dem Geheimnis auf zwei Zeitebenen, die sich clever bespiegeln.
Wie ich die Lektüre erlebt habe (Handlung, Erzählweise, erzeugte Wirkung):
Da sitze ich also im Jahr 1822 mit der eigensinnigen 72-jährigen Caroline Herschel in einer rumpeligen Postkutsche von England nach Hannover. Weil ihr geliebter Bruder und Forschungspartner Wilhelm gestorben ist, muss sie in ihre alte Heimat Hannover zurückkehren. Die zierliche Dame sitzt die Fahrt unbequem auf einem Stapel wertvoller Aufzeichnungen über Sterne und schützt die Tinte vorm Regen. Sie weckt direkt meine Sympathie. Schnell lerne ich sie besser kennen in ihrem arbeitsreichen Alltag im Haushalt ihres jüngeren Bruders. Sie schreibt ihre Memoiren und bereitet ihre Forschungsergebnisse auf. Immer wieder sortiert sie die Dokumente neu. Dabei hilft ihr das kesse Dienstmädchen Agnes (2. Hauptfigur). Was Caroline nicht weiß: Agnes spioniert sie aus! Diese träumt von ihrem Durchbruch als Journalistin und will Herschels Geheimnisse als Skandalgeschichte an die Presse verkaufen.
Mir gefällt, wie die Autorin das Storytelling thematisiert. Beide Protas ringen damit, wie sich Erlebtes durch das Erzählen verformt: Was ist wahr, was wird zensiert, was wird eingefärbt und verklärt? Wenn die listige Agnes Caroline Geheimes entlocken möchte, tarnt Caroline Wahres als Märchen. Agnes wiederum fabuliert wild, das beflügelt Caroline für ihre Memoiren.
Um Herschels Vertrauen zu gewinnen, lässt Agnes sich von ihr in Mathematik und Astronomie unterrichten. Wird Agnes ein Gewissen entwickeln? Zuerst mochte ich die kaltblütige Agnes nicht. Die Mentoring-Beziehung bleibt kühl, beide Frauen geben sich spröde.
Ich mag die Gespräche der beiden und den Metadiskurs übers Schreiben. So vergleicht Caroline wohl komponierte Briefe mit einer Symphonie und einem Menü.
Auf der zweiten Zeitebene in England (Kapitel im Wechsel mit der Zeitebene in Hannover) lerne ich die junge Caroline kennen. Hier tue ich mich zuerst schwer: Die ersten 200 Seiten sind ein (zu) schneller Galopp durch Carolines Leben (20 bis 40-Jährig). Ich haste durch die Jahre ... und finde die Lektüre teils recht anstrengend. Interessante Nebenfiguren verschwinden zu schnell wieder. Und mir fehlt Näheres zur Beziehungschemie mit Bruder Wilhelm (wirkt zu sachlich).
Ja, ich leide mit, wie Caroline um Anerkennung als Astronomin und als Frau in der engstirnigen Gesellschaft ringt. Harte Zeiten: Missachtet als altjüngferliches Anhängsel ihres Bruders, von der Schwägerin als Haushaltsvorsteherin verdrängt, lieblos Wohnen in der Besenkammer über der Werkstatt.
Erst auf S. 211 wenn "Love Interest" Janek auftaucht, verlangsamt sich das Erzähltempo und ich habe das Gefühl, jetzt im Kern der Geschichte angekommen zu sein: Sie muss sich entscheiden zwischen Liebe (Ehe) und Wissenschaft. Carolines emsigen Sternsuche-Alltag mit dem riesigen Teleskop (Vierzigfuß) erlebe ich fasziniert mit.
Handlung in England: 1772 folgte Caroline als 22-Jährige ihrem älteren Bruder Wilhelm Herschel nach Bath. Er arbeitet als Musiker, sie als Sängerin. Beide begeistern sich immer mehr für Astronomie, er macht es zu seinem Hauptberuf, sie bezieht von der englischen Krone als erste Frau in der Sternkunde ein Gehalt als Assistentin. Während ich mir Caroline als charismatische Sängerin nicht richtig vorstellen kann, fühle ich ihre Begeisterung für die Sterne und Zahlen (obwohl ich selbst mit Mathe auf dem Kriegsfuß stehe). Die Jagd nach Kometen ist spannend.
Erzählweise: teils auktorial, teils personal.
Stil und Emotion: Stilsicher, sprachlich gehobenes Niveau, schön zu lesen. Bei Kornberger ist der Erzählton schnörkellos und eher kühl, passend zu Herschel selbst: eine strategisch denkende Frau mit kühlem Kopf, viel Disziplin und Selbstbeherrschung. Dennoch hat sie große Leidenschaft für ihren Beruf und dann (mit 40+) für einen Mann. Ihre zärtlichen Gefühle und Gesten werden benannt, aber so richtig "spüre" ich Carolines Verliebtsein in Janek nicht. Viel eindringlicher resoniert in mir die Wehmut Carolines um die verpasste Chance und die unerfüllte Sehnsucht nach dem geliebten Menschen. Bei einer bestimmten Szene im Finale bin ich den Tränen nahe. Das Bittersüße und das Nichtauslebenkönnen von Gefühlen macht Kornberger eindringlich spürbar.
Meine Lesereise macht mir auf den letzten 200 Seiten so richtig Spaß. Ich sehe Kometen und lausche der Symphonie der Sterne! Ich bin überrascht, wie eng Musik und Sternkunde hier zusammenspielen.
Mein Fazit: Die Geschichte von Caroline, Janek und Agnes hat mein Herz berührt und meinen Intellekt angeregt. Ich habe Faszinierendes über Sternkunde im 18. Jh. erfahren. Ich ziehe meinen Hut vor der akribischen Recherche der Autorin und der klug durchdachten Erzählstruktur.
Ich empfehle den Roman insbesondere anspruchsvollen Leserinnen, die eine reifere Heldin mit eigensinnigem Charakter mögen. (Dies ist ein Kontrastprogramm zu den oftmals weichgespülten und allzu gefällig erzählten Romanbiografien in der atb Reihe „Mutige Frauen zwischen Kunst und Liebe“.) Dieser Roman ist wie ein Stern: Er leuchtet auch nach dem Auslesen noch lange nach!