Rezension zu "Die Inkommensurablen" von Raphaela Edelbauer
"Wenn ich dir erzählen würde, dass ich ein schlechtes Verhältnis zu meinen Eltern habe, dann wäre das gelogen - ich habe gar kein Gemeinsames mit ihnen, wir sind inkommensurabel."
So erklärt Klara, eine Mathematikstudentin, Hans ihre Familienbeziehungen. Nicht vergleichbar mit der Norm des frühen 20. Jahrhunderts, eben inkommensurabel, ist die junge Frau. Sie studiert, gehört zu den Suffragetten, ist homosexuell und hält mit ihren Einstellungen nicht hinterm Berg. Und sie ist das vollkommene Gegenteil von dem, was Hans von seinem heimischen Tiroler Bauernhof kennt. Von dort hat er sich auf den Weg nach Wien gemacht. Auf der Suche nach einer Psychoanalytikerin trifft er zuerst auf Klara und dann auf ihren Freund Adam. Der ist der Sprössling einer Offiziersfamilie und soll bald schon selbst ein Herr im Krieg anführen. Denn Hans kommt nicht an irgendeinem Tag nach Wien. Es ist der Vorabend des Ersten Weltkriegs, das deutsche Ultimatum an Russland wurde gerade verhängt und am nächsten Tag wird sich entscheiden, ob es zum Krieg kommen wird. Diese eine letzte Nacht der Normalität verbringt Hans zusammen mit Adam und Klara. Zwischen Badehäusern, Untergrundkneipen, Adams Familienessen und Mathematikvorlesungen erkennen aber auch die drei, dass sich die Welt längst schon auf den Weg in eine neue Moderne gemacht hat.
Raphaela Edelbauer hat auf den gut 300 Seiten sehr, sehr viele Themen untergebracht. Allein sie alle aufzuzählen, ist eine Herausforderung. Es geht um Traumdeutung und Freud, um die Suffragettenbewegung und die Sozialdemokratie, um Metaphysik und Mathematik, um Massensuggestion und Kriegseuphorie, um Herkunft und Freundschaft und dazwischen finden sich Happen der Wiener Geschichte, die bis ins 16. Jahrhundert zurückgreifen und den Leser nicht unbedingt erhellt zurücklassen. Kurz um: Es ist einfach zu viel! Der Roman behandelt etwa 1,5 Tage, in denen der Leser nicht nur atemlos mit den Figuren von Handlungsort zu Handlungsort springt, sondern in denen auch gefühlt tausend Themen angerissen werden, ohne wirklich zu Ende geführt zu werden. Die Kernaussage des Romans ist für mich der Versuch, die Wirkweise Massensuggestion (die im 2. Weltkrieg eine noch größere Rolle spielen soll) auf der Ebene der Psychoanalyse zu erklären und sie auf die Kriegseuphorie zu übertragen. Das ergibt sich meiner Meinung nach auch recht schlüssig. Dann allerdings wird so viel anderes hineingemischt, dass die Textteile fast schon unzusammenhängend sind. Warum werden alte Attentate auf österreichische Thronfolger mehrmals aufgegriffen? Soll ich mich als Leserin fragen, ob auch das mit der Suggestion zu tun haben könnte? Warum wird die Mathematikvorlesung über Inkommensurablen vollständig wiedergegeben? Um Wissenschaft und Metaphysik zu verbinden?
Diese Themenfülle macht es zwar auf der einen Seite spannend, weil man viele Verbindungen selbst herstellen muss. Auf der anderen Seite wird so aber viel Platz verschenkt, den auch die Figuren hätten einnehmen können. Die sind nämlich wirklich interessant gezeichnet (wenn in ihrer Grundstruktur auch etwas prototypisch angelegt). Über Klara und Adam hätte ich gerne mehr erfahren, alle drei noch länger begleitet, um herauszufinden, wie es ihnen im Verlauf des Krieges geht. Lediglich bei Adam gibt es dazu Andeutungen. Aber was zum Beispiel mit Klara passiert, das bleibt offen.
Obwohl mich die extreme Themenfülle und vor allem die historischen Exkurse wirklich gestört haben, möchte ich das Buch nicht schlecht bewerten. Denn die vielen Anspielungen, Verknüpfungen und Übertragungen werden dann so richtig spannend, wenn man selbst Verbindungen herstellt. Dann versteht man auch, warum Edelbauer von so vielen als großes österreichisches Erzähltalent angesehen wird. Dennoch ist "Die Inkommensurablen" selbst keine seichte Lektüre. Das liegt auch an der leicht angestaubten - aber im historischen Kontext durchaus passenden - Sprache. Wer es etwas experimenteller mag, dem sei dieser Roman ans Herz gelegt.