Nachdem Ralf Rothmann uns mit "Im Frühling sterben" die Frontschicksale der beiden zu SS-Männern gezwungenen Melker Walter und Fiete im Frühling 1945 nahegebracht hat, widmet er sich in "Der Gott jenes Sommers" denen, die auf dem norddeutschen Hof zurückgeblieben sind, speziell der Familie Norff. Hauptfigur ist Luisa, eine zwölfjährige Leseratte, die mit ihrer Mutter und der Schwester Billie aus dem zerbombten Kiel auf den Hof ihres Schwagers Vinzent geflohen sind, einem Nazi-Bilderbuch-Karrieristen. Der Vater betreibt in Kiel immer noch ein Offizierskasino und versorgt die Familie mit dem Nötigsten (und ein paar Leckereien dazu). Mit den Augen der wissbegierigen Luisa lernen wir den Mikrokosmos des untergehenden Nazireichs kennen. Überzeugte Nationalsozialisten, die sich beharrlich der Realität verweigern, Wendehälse, die für alle Eventualitäten bereit sind, fatalistische Soldaten, die dem hoffnungslosen Endkampf entgegensehen und das Leben noch mit aller Macht ausschöpfen wollen.
Auf den ersten Blick wirkt "Der Gott jenes Sommers" weniger beeindruckend als sein Vorgänger, einfach weil dem Werk diese wuchtige griechische Tragödie fehlt, weil das Töten und Sterben nicht so unmittelbar präsent sind wie bei den Berichten von der Front. Dabei steckt bei näherem Hinsehen vielleicht sogar mehr drin an Wahrheiten: Die Mentalität, mit der die Herrenmenschen das Land bis zuletzt rücksichtslos beraubt haben, die Gier und ungenierte Bereicherung der Nazi-Eliten, wie das KZ-System bis zuletzt funktionierte, als greise Volkssturmmänner die ausgehungerten Häftlinge bewachten, die die Bombentrichter auf den Landstraßen zu flicken hatten, wie Denunziation Leute noch in den letzten Wochen in Lager und Tod bringen konnte.
Rothmann ist konsequent und lässt einigen Ereignissen ihre Geheimnisse, die aus Luisas Perspektive unerforscht bleiben müssen. Gut so!
Gefallen hat mir auch, wie Rothmann den Mythos der "Stunde Null" zerlegt. Nein, die gab es nie, auch nicht in den Köpfen der Leute: Die einen sorgen sich noch im April '45, ob ihnen der kommende Sommer auf dem Hof wohl als Zeit fürs Pflichtjahr angerechnet wird und hoffen, Admiral Dönitz als Paten für ihr Baby gewinnen zu können, die anderen achten bei der Einstellung einer Kneipenbedienung schon auf Englischkenntnisse, weil bald neue Herren zu erwarten sind. Die Schilderungen sind realistisch, auch in Grausamkeit und Härten, ohne je suggestiv zu werden, die humanistische Haltung des Autors unübersehbar, ohne dass er sich je moralisierend oder belehrend überhebt.
Zwiespältig stehe ich den Einschüben der Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg gegenüber. Wer sich ein bisschen mit dieser Zeit befasst hat, weiß, dass das Deutsch des 17. Jahrhunderts sich wesentlich von unserem modernen Idiom unterschieden hat. Es reicht nicht, dann und wann ein "itzo" und ein "sintemal" einzustreuen; aber ich weiß auch, dass man einen originalgetreuen Text niemandem zumuten könnte. Und als Motiv, als Erinnerung, dass das Leid des gemeinen Volkes von Krieg zu Krieg dasselbe bleibt und es nur der jeweils letzte ist, an den wir uns mit Schaudern erinnern, haben diese Passagen durchaus ihren Sinn und ihre Berechtigung.