Wo du und ich sind, ist unten....
Auch, wenn dieser Satz in einem anderen Zusammenhang fällt, könnte das Leben der beiden Protagonisten in diesem Roman nicht treffender zusammengefasst werden.
Hier ist einerseits der völlig abgewrackte, alkoholkranke Journalist Norbert Jaeger, der sich wie eine Zecke von der Gutmütigkeit seiner Mitmenschen ernährt, und sich mehr schlecht als recht durch die Tage schleppt, und andererseits der kleine Waisenjunge Jeremias Ludger, mehrmals von potenziellen Adoptiveltern abgelehnt und mit mittlerweile zwölf Jahren wohl zu alt für einen neuerlichen Versuch, seine „Familienkompatibilität“ unter Beweis zu stellen.
Die Beiden treffen durch Zufall in Jeremias' Heimatort Nauenheim aufeinander, als Jaeger von einem alten Freund den Auftrag für einen Artikel über eine dort ansässige Firma zugeschanzt bekommt, und sich zu Recherchezwecken für ein paar Tage dort aufhält. Der kleine Junge, der noch nie einem „echten Schriftsteller“ begegnet ist, sieht seine Chance darin, sich vom Profi Tipps für die eigene Karriere als erfolgreicher Autor zu holen und lässt sich auch durch noch so unverhohlene Bösartigkeiten von Jaegers Seite nicht abwimmeln, denn im Gegensatz zu dem heruntergekommenen Erwachsenen weiß der Junge, was er sich vom Leben erwartet und verfolgt sein anvisiertes Ziel mit größter Ernsthaftigkeit. So bleibt Jeremias dem Journalisten ständig auf den Fersen und schafft es mit seiner Hartnäckigkeit tatsächlich, den sonst sehr egoistischen und misanthrop angehauchten Jaeger für sich zu gewinnen.
Als zeitgleich im sonst so beschaulichen Nauenheim... äh, pardon, „Inzestheim, wo Tante, Cousine und Lieblingskuh dieselbe Person sind“ (O-Ton Jaeger ), eine Hebamme ermordet und eine ihrer Patientinnen vermisst wird, machen sich die beiden gemeinsam mit einem weiteren Freund auf eigene Faust daran, der nach ihren Vermutungen in diese und weitere unerklärliche Geschehnisse involvierten Geburtsklinik des Ortes auf die Schliche zu kommen, was beinahe fatale Folgen hat....
Ein absoluter Pluspunkt dieses Romans ist der auffallend originelle und intelligente Schreibstil des Autors, der wirklich etwas Besonderes ist. Ich habe zahlreiche Stellen markiert, die es wert sind, dass man sie im Gedächtnis behält („...wie willst du nach vorn sehen, wenn du nicht weißt, wo du herkommst?“), von daher, und weil mir das Grundgerüst der Geschichte sehr gut gefallen hat, war das Lesen dieses Romans ein großes Vergnügen. Einen Punkt muss ich dennoch abziehen, denn Jaegers Alkoholkonsum ging mir entschieden zu weit, und auch, wenn man im Laufe des Buches erfährt, wie es zu seinem katastrophalen Ist-Zustand gekommen ist, waren mir seine ständigen „Milieustudien“ bis zum totalen Absturz eindeutig zuviel des Guten. Dennoch gibt es mit vier von fünf Sternen eine klare Leseempfehlung von mir, „Ungeboren“ wird sicher nicht mein letztes Buch von Ralf Becker gewesen sein, es hat eindeutig Lust auf mehr gemacht.