Rezension zu "Der Wachmann" von Peter Terrin
Michel und Henry bewachen im Auftrag der Organisation eine Tiefgarage eines Luxuswohnblocks. Ihre Arbeitstage sind eintönig und an Gewohnheiten orientiert. Ihr Leben findet vollständig untertage statt, denn raus kommen sie nie. Ihr Gebiet endet am Garagentor. Ein einziger Schlitz im Tor lässt Michel in die Außenwelt lugen. Mehr wissen sie von außen nicht.
Doch meistern Michel und Harry dieses Leben gut. Normalerweise würde man vermuten, dass eine solche Isolation zu Wahnsinn führt. Doch Gewohnheit ist stärker. Michel weiß, wie viele Schritte bis zum Fahrstuhl sind, wie viele Schritte bis zum Garagenplatz 24 sind und wie die Welt da draußen vor dem Garagentor riecht.
Nun könnte man annehmen, dass diese Gewohnheiten langweilig zu lesen seien. Sind sie nicht. Dieser unterirdische Arbeits- und Wohnstil ist derart befremdlich, dass alleine dieses Setting den Leser lange bei der Stange hält. Außerdem fragt sich der Leser ebenso wie die Wachmänner, was da draußen wohl passiert sein könnte. Denn eines Tages reist ein Bewohner nach dem anderen ab. Alle bis auf einen verlassen an einem einzigen Tag das Apartmenthaus. Irgendwas muss passiert sein. Da draußen. Ahnungslos halten sie weiterhin die Stellung wie befohlen und an ihren Gewohnheiten fest.
Der Leser hat, wie Michel und Henry, keine Ahnung, ob die Welt vor dem Tor überhaupt noch existiert. Ob Menschen durch die Straßen gehen oder ob ein Atomangriff die ganze Welt draußen zerstört hat.
Die Durchbrechung dieser Gewohnheiten wirkt wie eine Erschütterung einer ansonst gut funktionierenden Welt. Und die Gewohnheiten werden weiterhin gestört. Die Vorratslieferung der Organisation kommt später als erwartet. Der Strom fällt nach und nach aus. Und dann taucht auch noch ein dritter Wachmann auf und der Wahnsinn löst die Gewohnheit ab.
Dieses Buch liest sich einerseits durch das Setting beklemmend, andererseits auch geheimnisvoll. Es wird nicht verraten, was da draußen vor sich geht. Es geht um das drinnen. Drinnen in diesem Gebäude, drinnen im Innersten isolierter Menschen, denen die Gewohnheit weggenommen wird. Die es gewohnt sind, sich unterzuordnen und ohne zu hinterfragen, Befehle zu befolgen. Was, wenn niemand mehr da ist, der Befehle gibt? Wenn sie von einer Minute auf die andere auf sich alleine gestellt sind? Ohne zu wissen, was vor sich geht? Das sind die Kernfragen, die dieses Buch aufgreift.
Leider ist das Ende sehr dem Wahnsinn verfallen. Die Geschichte färbt nämlich nicht nur auf die Figuren ab, sondern auch auf den Leser. Am Ende muss man sich selbst die Frage stellen: Was ist echt? Was ist Paranoia? Wo hört die Realität an und wo fängt der Wahnsinn an.
Ein Buch, das einfach und schlicht beginnt und mit Anspruch endet. Man muss wohl den Wahnsinn lieben, um glücklich mit der Geschichte zu werden.