Rezension zu "Die Welt des Mittelalters" von Johannes Fried
Innovative Darstellung eines historischen Abschnitts
Sowohl der Titel des vorliegenden Bandes als auch die Umschlaggestaltung lassen zunächst an ein weiteres „Lesebuch“ vornehmlich für Heranwachsende, über die „sagenumwobenen“ Welt des Mittelalters denken. Beim näheren Hinschauen aber wird schnell deutlich, dass Fried und Rader sich sehr viel eher mit ihrem Werk einordnen lassen in den breiten wissenschaftlichen Diskurs zum Thema „Gedächtnis und Erinnerung“ und hier die historische Epoche des Mittelalters in gewichtige, einzelne Themen in Sinne von „kollektiven Erinnerungsorten“ aufteilen und betrachten.
Ein historische, fundierte Reise, die ein Vielfaches an Überraschungen bereit hält. Denn all die gängigen Schlagworte im Blick auf diese Zeit der Weltgeschichte, finster, barbarisch, kriegerisch, ungerecht, grausam, voller Hunger und Seuchen, all diese (einseitigen) Vorurteile lösen sich bei der Lektüre des Buches in eine höchst differenzierte und bei weitem nicht „nur“ barbarische und finstere Welt auf (auch wenn diese Seiten natürlich vorhanden sind).
Warum dennoch dieses Bild des „finsteren Mittelalters“ so verbreitet vorliegt, neben der differenzierten Darstellung der mittelalterlichen Lebensweise an sich gehen die Autoren auch dieser Frage nach und finden durchaus einsichtige Antworten. Diese binden die einzelnen Verfasser der Essays mit ein in ihre jeweiligen Betrachtungen spezieller und bis heute bekannter, wichtiger, teils entscheidender „Erinnerungsorte“ (Kreuzzüge, Karl der Große, Petersdom, Pest, Barbarossa, die Erfindung der Brille, Papsttum, der Deutsche Orden und vieles mehr).
Eine Rezeption, die bereits im Vorwort in ihren Motiven verdeutlicht wird. Machtfragen, fälschender Umgang mit mittelalterlichen Urkunden, der unbedingte Wille zur historischen Verankerung des eigenen Reiches, vielfach sind die je egozentrischen Motive, diese Epoche der Geschichte in einem ganz bestimmten, persönlich gefärbtem Licht leuchten zu lassen.
So zeigen die Autoren beispielsweise am Erinnerungsort des „Wikingers“ einander widersprechende Bilder auf, die zu einem durchaus ambivalenten „Erinnerungsraum“ führten und auf vielfachen, auch widersprüchlichen Quellen beruhen. Nicht anders ergeht es in der Rezeption Dantes, der als „italienischer Dante“, als „deutscher Dante“ und als „Welt-Dante“ aufzeigt, dass eben jedes Land, jede Erinnerungskultur „ihren“ Dante sich erschaffen hat.
Diese detaillierte Darstellung der Rezeptionen und der damit einhergehenden „Färbung“ der Erinnerungen bieten die Autoren auf der Basis aktueller historisch gesicherter Fakten. In den über 30 behandelten Themen, Orten und Personen des Buches entsteht so im Lauf der Lektüre ein breites Bild mittelalterlichen Lebens, werden viele Deutungen und Legenden auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft und in ebenso vielfacher Weise durchaus korrigiert, ohne dabei die „Welt des Mittelalters“, wie sie allgemein bekannt vorliegt, völlig auf den Kopf zu stellen.
Ein Buch, dass in Sprache und Form historisch interessierten Lesern gut zugänglich ist, in dem viele Details vermeintlich altbekannter Fakten sich neu ordnen und erweitert werden, in dem die Gründe für ein bestimmtes Verständnis bestimmter Ereignisse und Personen dargestellt werden, das aber letztlich jenen Aberglauben, jene Mystik und jene auch geistige Enge in Teilen auch zu bestätigen weiß, die man jener Epoche (fast) immer schon zugeschrieben hat. Jedem historisch interessiertem Leser ist das Buch durchaus zu empfehlen.