Der neue Roman des israelischen Autors Nir Baram ist so ein Buch, das man eigentlich gleich ein zweites Mal lesen müsste, um wirklich alle Zusammenhänge zu verstehen. Sich, so wie meine Mutter das öfters macht, direkt von Anfang eine Liste – oder am besten gleich eine Art Stammbaum – mit allen Figuren zu machen, könnte auch eine Lösung sein. Habe ich natürlich nicht gemacht, sodass, auch wenn im Laufe des Romans viele Stränge wieder zusammenlaufen, ein, wie ich finde, angenehmes Gefühl der Rest-Spannung übrig geblieben ist.
Diese Komplexität erreicht der Autor durch drei Handlungsstränge, die – wie nicht anders zu erwarten – letztlich natürlich alle miteinander verbunden sind, sich aber immer wieder abwechseln und so wechselseitige Einblicke in verschiedene Zeitpunkte und Ereignisse entlang der Handlung bieten.
So treffen wir einerseits auf den Israeli Gavriel Manzur, der in jungen Jahren den Hedgefonds-Erben Michael Brookman, US-amerikanischer Jude, kennen lernt und unter dessen Fittiche genommen wird: Gavriel wird Teil einer Gruppe Israeli, die mit Brookman zusammenarbeiten und erhält den Vorsitz der neu gegründeten „Jüdischen Stiftung für Demokratie“. Nur langsam wächst Gavriel in diese privilegierte Rolle hinein, gründet mit den weiteren Akteuren Horowitz, Wolfsohn und Misrutzky in den 90er Jahren eine Art Unternehmensberatung, die vor allem ausländische Investoren ins Land holen will.
Michael Brookman wiederum ist ein alter Bekannter der Eigentümer der erfolgreichen Politikberatungsagentur MSV. Die Gründer Torsten Vanderslice, Alison Mayo und Jordan Steinbeck sind für spektakuläre Erfolge in politischen (Wahl-)Kampagnen auf der ganzen Welt bekannt – aktuell, im 21. Jahrhundert, straucheln sie etwas: Die Kampagne für einen Präsidentschaftskandidaten in Bolivien läuft nicht gerade gut und die Demokratische Republik Kongo will die Zusammenarbeit beenden. Noch dazu hat einer ihrer Zöglinge und Angestellten die Nase voll von dem angeblichen Gutmenschentum der Agentur, die von sich behauptet, mehr Demokratie und Gerechtigkeit in die Welt zu bringen und einzig und allein für Kandidaten zu arbeiten, deren Ziele sie als ehrbar und aufrichtig empfindet. Daniel Kaye verlässt das Unternehmen von einem Tag auf den anderen und droht kurz darauf mit der Veröffentlichung sensibler Informationen zu MSV…
Wiederum in einem anderen Land, in Großbritannien, hat sich eine Gruppe junger Menschen zusammengefunden, die vor allem eins verbindet: Die modernen Gesellschaftsstrukturen und ihre sozialen Hintergründe haben sie zu Außenseitern und Verlierern des Lebens gemacht. Sie gründen aus dem Nichts eine Initiative: 11.11., weltweiter Streik, eine Milliarde Streikende. Mithilfe der sozialen Netzwerke verbreiten sie die Idee ohne große Strategie und finden dennoch erstaunlich viele Anhänger rund um den Globus. Doch es soll nicht bei einem reinen Mobilisieren bis zu dem Streik bleiben – die verschiedenen Gruppen beginnen sich durch „Aktionen“ bemerkbar zu machen, die darauf zielen, Kultureinrichtungen anzugreifen, zu zerstören, zu besetzen etc und beispielsweise Bücher zu verbrennen. Diese jungen Menschen haben eigentlich erst mal die Sympathien aller der Leser, die der Globalisierung und der (auch) dadurch sich immer weiter öffnenden Schere zwischen Arm und Reich kritisch gegenüber stehen.
Aber Bücher verbrennen? Das hinterlässt bei jedem normaldenkenden Deutschen (und eigentlich jedem) erst einmal ein schales Gefühl ihm Mund, oder? Die Initiative erklärt das (indirekt) so:
„Keines der Scheißideale, die der Gesellschaft heilig sind, interessiert uns, also sollen sie nicht wagen, von uns zu erwarten, Teil von irgendwas zu sein […] Mit der Aktion im Museum würden wir ihnen im Grunde zeigen: Ihr Fucker, wir sind raus, wir spielen nicht mehr mit.“
Ein Manifest an sich bzw. eine detaillierter Erklärung ihrer Zielsetzungen und deren Hintergründe veröffentlicht die Gruppe nicht. Sie haben keine politische Richtung, keine einzuordnende Weltsicht. Eigentlich erfährt man nur so viel, dass sie gegen das System an sich sind, eben auch mit seinen kulturellen Ausformungen.
Insbesondere der britischen Regierung sind die so schwer einzuschätzenden Rebellen natürlich ein Dorn im Auge. Was tun? Es wird die erfolgreichste Politikagentur der Welt engagiert. Wer war das noch mal – ach ja, natürlich MSV. Doch auch die Initiative „11.11., weltweiter Streik, 1 Milliarde Streikende“ erhält Unterstützung von einem nebulösen Campaigner (wer könnte das wohl sein? Wer aufmerksam gelesen hat, kann diese Stränge jetzt verknüpfen – etwas, womit man im Laufe des Romans konstant beschäftigt ist.)
Wie passt nun der im 21. Jahrhundert schon in der späten Mitte des Lebens angekommene Gavriel Manzur in die Geschichte? Was haben seine (wie sich herausstellt dubiosen) Geschäfte mit den Streikenden zu tun? Hier soll natürlich nicht zu viel verraten werden, aber Nir Baram gibt mit seinem mehrere Jahrzehnte umfassenden Roman eben nicht nur ein Bild der aktuellen globalisierten Welt wieder, sondern auch von dahin führenden Entwicklungen und einigen, beispielhaften Gruppen, die faszinierend miteinander verwoben sind.
Dabei ist Weltschatten auch insoweit global, als dass sich die Handlungen rund um den Globus abspielen: Wir finden uns in den USA, in Kenia, in Israel, in Bolivien, in Großbritannien, in Prag…. Die verschiedenen Handlungsstränge, Charaktere und Zeiten zeichnen sich auch in der Sprache und Darstellungsform aus: Aus der Wir-Perspektive berichten die Streikenden – nach Ende ihrer Aktion – von ihren Erlebnissen in einer etwas raueren Sprache. Gavriel Manzurs Geschichte wird von einem personalen Erzähler erzählt, während der Leser über die Ereignisse bei MSV nur über E-Mail-Nachrichten und Zeitungsartikel informiert wird. Diesen Teil zu lesen, war ab und an nicht ganz einfach, weil Zusammenhänge so erst recht erst nach und nach klar werden und man immer genau darauf schauen muss, wer gerade an wen eine E-Mail schreibt. Aber dabei war es auch besonders unterhaltsam zu lesen.
Ich kann nicht wirklich beurteilen, inwieweit ich es geschafft habe, den Plot verständlich zu vermitteln – oder ihn, mindestens genauso wichtig, spannend erscheinen zu lassen – deshalb soll es noch einmal ausdrücklich gesagt werden:
Nir Barams „Weltschatten“ ist ein spannender, komplexer Roman voller etwas seltsamer Charaktere, der den Leser von Anfang an in die verschiedenen Handlungsstränge wirft und von da an kaum an Geschwindigkeit verliert. Er ist ein (fiktiver) Blick hinter die Kulissen einer Welt, über die wir uns wohl klar sein sollten, dass der Autor sie durchaus nach einem realen Vorbild erschaffen hat.