Rezension zu "Das mangelnde Licht" von Nino Haratischwili
Es beginnt, wie eine normale Freundschaftsgeschichte: Dina, Keto, Nene und Ira wachsen zusammen auf und werden über die Jahre unzertrennlich. So unterschiedlich sie doch sind – Dina ist stürmisch, Keto nachdenklich, Nene naiv und Ira nüchtern –, trägt ihre Freundschaft sie durch die erste Verliebtheit, durch Streitigkeiten mit Eltern und Geschwistern und die Suche nach der eigenen Zukunft. Doch die Freundschaftsgeschichte der vier ist keine der klassischen Geschichten, die wir kennen, denn Dina, Keto, Nene und Ira wachsen im postsowjetischen Georgien der 1990er auf. Von einem Tag auf dem anderen bricht der Staat, den sie bisher kannten und ihr Leben geformt hat, zusammen: Teilrepubliken streben in die Unabhängigkeit, in einem Bürgerkrieg stehen sich Nachbarn verfeindet gegenüber, Panzer sind auf den Straßen so selbstverständlich wie das Anstehen für Brot und das Ausfallen der Heizung. Die vorher schon existierende Korruption und Kleinkriminalität nimmt gewaltige Züge an, sind es doch nun auch ihre eigenen Brüder, Freunde und Liebhaber, die nun Schutzgeld erpressen, illegales Glückspiel betreiben und in Straßenkämpfen über die Vorherschafften ganzer Viertel kämpfen. Die Zukunft des Landes, aber auch ihre eigene scheint düster zu sein – und tatsächlich werden sie 30 Jahre später nur noch zu dritt sein. Dina hat sich das Leben genommen und alles, was von ihr bleibt, sind ihre berühmt gewordenen Fotos über den Alltag in einem zusammengebrochenen Land.
Es ist mal erneut ein opulentes Werk, das Nino Haratischwili mit Das mangelnde Licht vorlegt. Knapp 830 Seiten umfasst ihr neuster Roman und ist damit doch noch um einiges kürzer als ihr Bestseller Das achte Leben (für Brilka). Wie so viele Leser:innen zähle ich Letzteres zu meinen Lieblingsbüchern und halte es für einen großen und wichtigen Roman. Allen, die deswegen auch zum neuen Werk greifen wollen, sei gesagt: Es ist thematisch ebenso wichtig und bedeutend, doch handwerklich weniger gelungen. Denn wo sich im über 1000 Seiten zählenden Brilka-Roman überraschenderweise keine Längen finden, wartet Das mangelnde Licht mit einem Meer von „Zuviel“ auf: zu viele Seiten, zu viele Szenen, die als Füller dienen, zu viele dramatischen Wendungen, die die Story höher und höher schrauben.
Dies liegt vor allem an der wenig geglückten Rahmenhandlung: Keto, Nene und Ira treffen sich nach fast 30 Jahren, in denen sie nur spärlich Kontakt hatten, auf einer Ausstellung in Brüssel wieder, auf der die Bilder der verstorbene Dina als Retrospektive gezeigt werden. Das Abschreiten der Bilder in chronologischer Reihenfolge öffnet dabei ein Fenster in die Vergangenheit: Die Fotos rufen Erinnerungen wach – die Haratischwili dabei einmal zu oft mit bedeutungsschweren Andeutungen einleitet, die auf Leid, Tod und Trauma hinweisen –, in denen sich Keto, die Erzählerin, verliert. Was zu Beginn noch sinnig wirkt (die Bilder als Brücke in die Vergangenheit), nutzt sich mit der Zeit jedoch ab und wirkt nur noch bemüht. Vollends zusammen bricht der Gegenwartsstrang, als die drei Freundinnen die Ausstellung verlassen und durch das nächtliche Brüssel streifen: Hier hätten mindestens 50, wenn nicht gar 100 Seiten gestrichen werden können. Stattdessen versucht Haratischwili krampfhaft einen Bogen zum Anfang des Romans zu schlagen, was den Roman auf den letzten Seiten arg auf der Stelle treten lässt und dem Ende seine Kraft raubt.
Dies empfinde ich als besonders schade, da der historische Teil des Romans mehr als gelungen ist. Ja, auch hier mag die Sprache für meinen Geschmack bisweilen zu aufgeladen sein und leider weisen auch alle Figuren eine leichte Neigung zum Schablonenhaften auf; doch das komplexe Freundschaftsgeflecht ist liebevoll beschrieben und das Zusammenleben im Hinterhof eines georgischen Viertels mit seinen verschiedenen Bewohnern atmosphärisch und bildhaft gezeichnet. Vor allem aber gelingt es Haratischwili ein Verständnis dafür zu vermitteln, was es bedeutet, wenn ein Staat zusammenbricht: Geduldig und mit gutem Blick erzählt sie davon, wie der Wegfall einer richtenden und leitenden Distanz zu einer drastischen Verschiebung der moralischen und gesellschaftlichen Grenzen führt, an deren Ende ein Bürgerkrieg, terrorisierende Milizen und der komplette Verlust der Versorgungsinfrastruktur steht. Das Aufwachsen in einem solchen Umfeld bedeutet daher Krieg – und zwar nicht nur einen äußeren Krieg, in dem Soldaten, Waffen und Ausgangssperren allgegenwärtig sondern, sondern auch ein innerer Krieg: Alle vier treffen Entscheidungen von moralisch zweifelhaften Charakter, alle vier handeln mehr als einmal nach der Divise „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“ und alle vier hadern mit dem Bild, das sie abendlich im Spiegel betrachten.
Das mangelnde Licht ist kein zweiter Brilka-Roman, hat mich aber nach dem grauenhaften Die Katze und der General wieder mit Haratischwili versöhnt. Ich persönlich würde mir wünschen, dass sie in ihren kommenden Romanen wieder das rechte Maß findet: Ausschweifende Geschichten können einen einsaugen, doch nur wenn der Erzählinhalt wirklich nach einem solchen Erzählumfang giert. Dies war meiner Meinung nach in Das mangelnde Licht nicht immer der Fall: Das rasche Aufeinanderfolgen der vielen Dramen hätte es überhaupt nicht gebraucht, um deutlich zu machen, in was für einer Extremsituation junge Menschen im postsowjetischen Zeitalter großgeworden sind. Diese Darstellung gelingt Haratischwili bereits ausgezeichnet durch das Verweben der Alltagshandlungen mit dem politischen Hintergrund und macht den Roman – trotz aller Kritik – deswegen immer noch lesens- und empfehlenswert. 4. Sterne!