Was fällt uns spontan zu Japan ein? Die klassischen Schlagwörter wie Zen. Teezeremonie. Geisha. Kimono. Kabuki- und No-Theater. Shinto. Harakiri. Kamikaze. Samurai. Tusche. Hokusai. Kirschblüte. Bogenschießen. Butho. Sushi. Aikido. Tätowierung. Bonsai. Ikebana. Tatami. Futon. Yakuza.
Und ganz modern und aktuell: Mangas und Hikikomori. Und natürlich ein klassischer Film wie „Rashomon“ oder die Romane von Murakami.
Nein, dies ist kein Reise-Buch im klassischen Sinne. Hier geht es um anderes. Um die Andersartigkeit Japans: seiner Menschen, seiner Kultur und seiner Traditionen. Es ist kein Wegweiser zu Museen mit Öffnungs-zeiten, zu landschaftlichen Highlights, zu Tempeln und Schreinen. Es mag ein „Sesam öffne Dich“ zur japanischen Seele sein….
Die Notizen von Nicolas Bouviers japanischen Reisen und seinem Auf-enthalt in Japan aus den Jahren 1964 bis 1970 zeigen ein Japan der Vormoderne. Inzwischen hat sich im Land selbst vieles verändert und die Gratwanderung zwischen Tradition und Moderne scheint aufgeweichter zu sein. Denn Japan ist ein Land, mehr als alle anderen Länder?, der Tradi-tionen, der festen Verhaltens-regeln, ein „starrsinniges“ Land.
Damit hadert Bouvier, ein weit gereister Mann und Asien-Kenner, oft. Es sind subjektive Gedankensplitter zu der japanischen Kultur, zu den japanischen Menschen und natürlich beeinträchtigt durch die Eigenaussage: „Ich schreibe über ein Land, dessen Sprache ich nur rudimentär beherrsche und dessen Schrift ich nicht lesen kann.“ Das ist natürlich ein Dilemma aller Reisenden.
Bis ins 19. Jahrhundert war Japan ein abgeschlossener Archipel, fast 1000 Jahre hat kein Fremder Japan betreten und auch kein Japaner das Land verlassen. Bis 1970 war es ein abgekapseltes Land, ein abgekapseltes System. So dass dieses Japan, wie Bouvier es beschreibt, einem welt-offenen Fremden es nicht leicht macht, einzutauchen in seine Seele und seine Kultur, Distanzen zu überwinden.
Natürlich schreibt Bouvier vom Zen, von der Teezeremonie, vom No-Theater, von Landschaften, von Menschen, aber mehr noch lese ich in seinem Buch eine Art Psychogramm des Landes, der Menschen. Man dürfe keine empfindsame Seele mitbringen, denn Land und Menschen wirken wie gepanzert und verschlossen wie Entenmuscheln. Zeremonien und Rituale seien dazu da, „um einen aus Leere bestehenden Kern zu rechtfertigen, um den man diesen Panzer aufbaut, der die Leere verbirgt.“
Immer wieder stößt Bouvier an die Grenzen des Individuums, konfrontiert mit dem Kollektiv.
Regeln befolgen und akzeptieren, durch Verpflichtungen blockiert, dem Glück misstrauen, rigorose Disziplin, Mangel an Heiterkeit, Improvisation und Spontaneität sind verpönt, falsche Höflichkeiten und feste Verhal-tenskodexe, Abscheu und Furcht vor Einsamkeit und Einzelgängern, Ehrerbietung und Fügsamkeit, das Lächeln – ist es aufrichtig oder ge-heuchelt?, das Gesicht verlieren.
Bouvier gelingt es anschaulich und hinterfragend, uns diese so anders aufgebaute und gestaltete Gesellschaft zu schildern. Seine eigenen Gefühle mitzuteilen. Beschreibt die Leere und die Fülle. Für ihn spiegelt sich die Fülle z.B. im Klang der Gongs, im Grüntee, in einige Buddha-Statuen.
Ich glaube, ich hätte nicht die Geduld und den Gleichmut zu einer solchen Konfrontation. Auch wenn ich die Perfektion der japanischen Kultur be-wundere. Aber vielleicht ist es auch gerade wieder diese Perfektion, die mich von einer Reise nach Japan abhalten würde. Kollektive, stringente Regeln, der Mangel an Flexibilität und Spontaneität des Verhaltens machen mir Angst.
Wahrscheinlich müsste ich ich den Zen-Lehrsatz verinnerlichen: Man müsse zuerst selbst die Augen öffnen, bevor man die der anderen öffnen kann. —
Vielleicht bleibe ich also an meinem Platz und lerne aus dem Fenster zu schauen. Und begnüge mich mit der aufschlussreichen und zum Nachdenken und Nachforschen anregenden Lektüre dieses Buches.