Vorab: Der Romantitel und Klappentext grenzen an Etikettenschwindel, denn das Kino am Jungfernstieg gibt es in Band 2 gar nicht mehr, es wurde in einen Jazzclub umgewandelt. Ein Filmpalast wird nur erwähnt und nie szenisch gezeigt, lediglich die letzte Szene spielt auf dem roten Teppich einer Filmpremiere. Auf Einblicke in die Filmwelt – z. B. Dreharbeiten, Kinovorstellung, Betreiben eines Kinos – wartete ich als Leserin vergeblich. Die Protagonistin arbeitet zwar als Cutterin bei der Wochenschau, aber ich erfahre nur, dass sie dabei einen weißen Kittel trägt und sonst gar nichts über den handwerklichen und künstlerischen Prozess. Enttäuschend.
Band 1 der Saga fand ich langatmig, endet mit einem Cliffhanger. Ich empfehle, direkt mit Band 2 einzusteigen, man versteht alles.
Handlung in Hamburg 1951:
Im Zentrum steht Filmschnittmeisterin Lili, die physisch und seelisch von dem Autounfall (vor 4 Jahren) heilen muss, ihre Familiengeschichte recherchiert und sich aus ihrer unglücklichen Ehe befreit, um endlich ihre große Liebe und ihren Erbanteil zu erkämpfen. Die Vernetzung der Figuren untereinander – geheime Verwandtschaftsverhältnisse und ehemalige Liebschaften – wirkte auf mich arg konstruiert, wobei sich der in beiden Bänden immer wieder erwähnte Kriminalfall bei Dreharbeiten vor dem Krieg unspektakulär auflöst. Meine Erwartung, dass die verschollene Filmrolle die Lösung zu Tage fördert, wurde herb enttäuscht. Damit hat die Autorin ein effekthascherisches Drama aufgebaut, das dann einfach sang- und klanglos im Nichts verläuft. Zudem hat es mich genervt, dass sich das Missverständnis, das die Liebenden voneinander trennt, zwei Mal auf ähnliche Weise wiederholt.
Achtung, Falschinformation vom Goldmann Verlag:
Auf dem Klappentext und in den Produktbeschreibungen diverser Online-Portale finden sich inhaltliche Fehler: Die Figur Thea von Middendorff ist keine berühmte „Hollywood-Diva“, sondern eine abgehalfterte deutsche Schauspielerin der UFA der 1930er Jahre, die seit Jahren im Exil in der Schweiz keinen Film mehr gedreht hat und nun ihr Comeback versucht. Weiterhin heißt es im Teaser: „Auf ihrer Spur befindet sich der britische Journalist John Fontaine, der Thea von Middendorff nun mit einem Interview kompromittiert.“ Solch eine Szene kommt im Roman nicht vor – weder das Interview, noch lüftet John ihr Geheimnis. Der Kriminalfall, der hier fälschlicherweise ins Zentrum der Handlung gerückt wird, klärt sich auf den letzten Seiten in einem Absatz durch die Erzählung einer Nebenfigur auf.
Irreführend ist auch das Buchcover (glamouröse Frau), das zwar ästhetisch ansprechend ist, aber den Kerninhalt und die Atmosphäre des Romans (hart arbeitende und erkrankte Frau geht durch die Ehehölle) verfehlt. Das Cover und der reißerische Teaser mit den Glamour und Spannung versprechenden Signalwörtern mögen in der Vermarktung zwar wirkungsvoll sein, führen aber zur Verärgerung beim Lesen, weil die geweckten Erwartungen nicht eingelöst werden.
Charaktere:
Die beiden Hauptfiguren – Lili Paal und ihr Geliebter, John Fontaine – kamen mir beim Lesen lebendig und psychologisch rund vor und ich habe für sie mitgefiebert. Lilis Ehemann Albert kommt nur in wenigen Szenen vor und wird glaubwürdig portraitiert als selbstsüchtiger Musiker mit schwachem Charakter, der sich von Intriganten beeinflussen lässt. Es ist abstoßend, wie er seine Ehefrau zum Sex zwingt, sie finanziell ausnutzt, belügt und betrügt. Damit gelingt es der Autorin, bei der Leserin Wut gegen den abscheulichen Ehemann zu schüren, wobei sie den Frustrationsbogen etwas überspannt: Warum verlässt Lili diesen Ehemann nicht schneller? Die duldsame Lili verursacht der Leserin einiges an Ungeduld und Mitleiden. Hätte die Autorin die Figur des Albert vielschichtiger angelegt, wären Beziehungsgeflecht und Dramaturgie interessanter gewesen.
Kritikwürdig finde ich die Ausarbeitung der weiteren Nebenfiguren: Lilis Halbschwester Hilde und deren fies intrigierender Ehemann Peter Westphal sind ganz simpel die Bösen (gerade bei Hilde wäre Potenzial für Ambivalenz).
Die glamouröse, exaltierte und tablettenschluckende Filmdiva Thea von Middendorff ist ein wandelndes Klischee. Die Autorin beschreibt sie aus der emotionalen Distanz einer schaulustigen Beobachterin und gibt die seelischen Nöte der Schauspielerin der Lächerlichkeit preis, wodurch es auch mir als Leserin schwerfällt, einen echten Menschen hinter der dicken Schminke zu erkennen. Was für eine vertane Chance! Hier wäre Raum gewesen, ein facettenreiches Portrait einer Künstlerin zu zeichnen und über diese Figur die Magie des Filmemachens zu entfalten.
Zeit- und Lokalkolorit sind sehr gut:
Ein großer Pluspunkt ist, wie die Autorin ihre gründliche Recherchearbeit über die gesellschaftliche und juristische Stellung der Frau im Deutschland der 1950er Jahre (z. B. Modalitäten bei einer Scheidung, harte Besteuerung von berufstätigen, verheirateten Frauen, Machtposition der Ehemänner) sowie die Gesetzgebung beim Wiederaufbau der zerbombten Stadt in die Handlung verwoben hat. Das Hamburg der Nachkriegszeit wird im Roman anschaulich und facettenreich beschrieben.
Stil:
Die Autorin schreibt flüssig lesbar, sprachlich souverän und atmosphärisch dicht. Nur einige Passage, in denen Figuren seitenlang in Gedanken hin und her überlegen strapazieren die Geduld (besonders dann, wenn man als Leser:in bereits einen Wissensvorsprung gegenüber den Figuren hat).
Fazit:
Ein unterhaltsamer Historienroman, sofern man sich damit abfindet, nichts Konkretes über die titelgebende Welt des Kinos zu erfahren. Es ist eine romantische, bittersüße Liebesgeschichte, eingebettet in ein faszinierendes Zeitportrait und eine Emanzipationsgeschichte, denn die Protagonistin erwacht schmerzhaft aus ihrer Naivität und kämpft um ihre Rechte. Es ist kein Wohlfühlroman, denn es kommen schwere Themen vor (z. B. wie Ehefrauen erzwungenen Geschlechtsverkehr erdulden müssen). Demgegenüber ist nicht stimmig, dass ernstzunehmende Themen wie Medikamentenmissbrauch und ein Nervenzusammenbruch bagatellisiert und auf Schlagzeilen in der Boulevardpresse reduziert werden. Tiefgang und Seichtes liegen in diesem Roman dicht nebeneinander.
Tipp: Wer einen guten Roman lesen möchte, bei dem es tatsächlich viel um Kino geht, empfehle ich: Peter Prange: Der Traumpalast