Erzählt wird die Geschichte der Familie Grinbaum aus Sicht des Sohnes Micha. Vater und Großvater des Erzählers entkamen knapp dem Juden-Massaker in Odessa 1941 – letztlich sind sie im Hamburger Grindelviertel gelandet, hier jedoch bricht die Familie auseinander: Vater Grinberg hatte immer Sehnsucht nach Israel und gibt diesem Gefühl schließlich nach. Er verlässt Hamburg mit einer anderen Frau und lässt Mutter und Sohn zurück.
Das Leben ist für die beiden nicht leicht, mehr recht als schlecht schlagen sie sich aber durch. Auch als Micha nach München zieht, bricht die Verbindung zwischen beiden nicht ab – sicher auch, weil sich beide der Literatur widmen: Während die Mutter Geschichten erzählt, auch aus ihrer eigenen Kindheit in Odessa, widmet sich Micha eher den Romanen. Und spät trifft er auch noch mal auf seinen Vater – ein Treffen, das ihn manches mit anderen Augen sehen lassen wird.
Wie viel autobiografisches in diesem Buc steckt, kann ich nicht sagen, an mancher Stelle kommt man aber nicht drumherum, genau das zu denken. Maxim Biller hat eine Geschichte mit viel Gefühl und Sehnsucht geschrieben, das merkt man sofort, wenn man in das Hörbuch hineinhört. Ein wenig verwirrt hat mich die fehlende Chronologie – es sind viele einzelne Geschichten aus verschiedenen Lebensabschnitten von Mutter, Vater und Micha und erst in Zusammensicht ergibt sich schließlich ein großes Ganzes. Das Bild muss sich der Leser bzw. Hörer aber selber zusammensetzen, für ihn gibt es lediglich viele einzelne Puzzlestücke. Die Liebe zur Literatur bleibt dabei aber ein vorherrschendes Element – sowohl die von Micha als auch die seiner Mutter.
Es gibt viele erschreckende Momente in dem Hörbuch, gar nicht, weil so detailliert in die Tiefe gehend berichtet wird, was geschieht, sondern weil trotz der Oberflächlichkeit der Schmerz und die Verletztheit in vielen Situationen zu spüren ist. Es werde viele Themen angesprochen, doch leider bleibt Maxim Biller bei den meisten sehr oberflächlich, so dass der Eindruck eines unzuverlässigen Erzählers entsteht und man sich als Hörer bzw. Leser viele eigene Gedanken machen kann und muss.
Das Verhältnis von Micha zu seiner Mutter ist durchaus ein tiefes, wenn auch nicht immer innig, je mehr sie aber aus ihrer Kindheit erzählt, desto mehr Verständnis kann Micha für vieles aufbringen. Ähnlich ist es mit seinem Vater – an ihm lässt er zunächst kein gutes Haar und hier ist seine Wortwahl auch sehr harsch. Das Treffen mit dem Vater ist dann ein zwar wortarmes aber sehr erhellendes.
Der Schreibstil ist erstaunlich leicht und gut les- bzw. hörbar; aber durch die vielen Zeitsprünge in der Erzählung muss man trotzdem mit Konzentration hören, sonst könnte man den Anschluss verpassen. Der Sprecher Jens Harzer war mir bisher gänzlich unbekannt, er hat das Hörbuch aber sehr gut eingesprochen und mit seiner noch jung klingenden Stimme sehr gut zum Erzähler gepasst. Er hat dem eher ruhigen Hörbuch trotz der schrecklichen Inhalte Leben einhauchen können.
Maxim Biller
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Neue Rezensionen zu Maxim Biller
Rezension zu "Mama Odessa" von Maxim Biller
Da würde mir viel fehlen, über Biller kann ich gleichzeitig lachen und weinen. Genial.
Gelesen wird dieses Hörbuch vom Schauspieler Jens Harzer, dem der Text auf den Leib geschrieben scheint. Jede Szene ist authentisch, leicht ironisch und einfühlsam gespielt. Mehr kann man von einem Hörbuchsprecher nicht verlangen.
Maxim Biller beschreibt eine Jugend in Hamburg, die (s)eine/Mischas Emigrantenfamilie, erlebt. Etwas makaber wird das Ganze, wenn er über die neue Frau seines Vaters als "Nazihure" berichtet, aber das sind offenbar Mischas Eindrücke, unverfälscht und heftig. Die Mutter hingegen ist Mama Odessa in Reinkultur. Später, wenn Mischa erwachsen wird, lauern andere Fallstricke, die enge Bindung an die Mutter aber bleibt ein Leben lang.
Es ist wohl einiges autobiographisch im Buch, aber es ist keine Autobiographie von Biller. Mit dieser hat er wohl vorerst abgeschlossen, aber die Emigrantenthematik und Hamburg bleiben dem Leser erhalten.
Ich bin froh, dass Biller seine Drohung, nach dem Beginn des Ukrainekrieges nun nicht mehr schriftstellerisch tätig zu sein, nicht wahrgemacht hat. Es wäre sehr schade. Wobei der Buchtitel Mama Odessa mit dem jetzigen Geschehen dort nichts gemein hat, aber es geht einem eben nicht aus dem Kopf.
Absolute Hörempfehlung!
Rezension zu "Mama Odessa" von Maxim Biller
„Im Mai 1987 – ich war erst sechsundzwanzig Jahre alt – schrieb mir meine Mutter auf einer alten russischen Schreibmaschine einen Brief, den sie nie abschickte.“ (Zitat Pos. 55)
Inhalt
1971 durfte die jüdische Familie Grinbaum aus der Sowjetunion ausreisen, doch statt in Tel Aviv, wie sein Vater Gena es sich gewünscht und geplant hatte, landen sie in der Bieberstraße 7 im Hamburger Grindelviertel. Hätte Aljona Grinbaum Jahre später ihren Mann auf einer seiner Reisen nach Israel begleitet, hätte dieser vielleicht die junge Deutsche nicht kennengelernt, wegen der er nun seine Frau verlässt. Mischa Grinbaum, der Sohn, ist noch ein Kind, als sie Odessa verlassen, inzwischen ist er längst erwachsen und Schriftsteller. Die großen Lücken in der Geschichte seiner Familie füllen sich erst langsam, verbinden sich mit seinen plötzlich wieder auftauchenden Kindheitserinnerungen, als er nach dem Tod seiner Mutter neben den alten Unterlagen und Fotoalben auch das Manuskript für ihr zweites, nicht mehr veröffentlichtes, Buch findet, und ein Bündel Briefe, die sie im Laufe vieler Jahre an ihn geschrieben, aber nicht abgeschickt hatte.
Thema und Genre
Im Mittelpunkt dieses Generationen- und Familienromans einer russisch-jüdischen Familie steht der Schriftsteller Mischa Grinbaum und natürlich sind Literatur und das Schreiben Themen, doch vor allem geht es um die Konflikte in Eltern-Kind-Beziehungen, um Familiengeheimnisse und der Geschichte der Juden in Russland.
Charaktere
Im gedanklichen Hintergrund der Familie immer präsent ist Jaakow Gaikowitsch Katschmorian, Aljonas Vater, Mischas Großvater, der in Odessa geblieben ist. Mischa beginnt seine Laufbahn als Schriftsteller schon in jungen Jahren, während seine Mutter zwar ihr ganzes Leben lang ihre eigenen Erfahrungen als Erzählungen niederschreibt, doch als ihr erstes Buch herauskommt, ist sie weit über sechzig Jahre alt. Sie lieben einander, aber besonders Mischa braucht viel Abstand. Den Zugang zu seiner Mutter findet er, indem er über sie schreibt.
Erzählform und Sprache
Mischa schreibt die Geschichte seiner Familie in der ersten Person, in Kapiteln, doch es gibt keine chronologische, fortlaufende Handlung. Es sind, wie in der persönlichen Erinnerung, Episoden, die je nach Situation und Ereignis auftauchen, und daher auch lebhaft wiederholt zwischen den Zeiten wechseln, von der Gegenwart in unterschiedliche Jahre in der Vergangenheit, und wieder zurück. Erzählungen aus dem Buch der Mutter, jeweils ein eigenes Kapitel, vertiefen mit weiteren Details, die der Ich-Erzähler nicht wissen kann. Dennoch, und hier zeigt sich auch in diesem Roman das besondere Können des Autors, entsteht nie eine Unruhe in den Abläufen, es bleiben am Ende keine offenen Erzählstränge, sondern die Einzelteile füllen die Lücken eines im Hintergrund immer präsenten Gesamtbildes einer Familiengeschichte mit allen Höhen, Tiefen, Konflikten und Geheimnissen. Die Sprache ist einfühlsam, in den Beschreibungen präzise, bunt und lebhaft und man liest dieses Buch mit Vergnügen.
Fazit
Eine beeindruckende, vielseitige Familiengeschichte über den Verlust der Heimat, und die Suche nach dem Platz und Sinn im eigenen Leben, in deren Mittelpunkt eine von Konflikten und dennoch tiefer Zärtlichkeit füreinander geprägte Mutter-Sohn-Beziehung steht.
Gespräche aus der Community

In jeder Familie gibt es Geheimnisse und Gerüchte, die von Generation zu Generation weiterleben. Manchmal geht es dabei um Leben und Tod. In seinem neuen Roman erzählt Maxim Biller von einem solchen Gerücht, dessen böse Kraft bis in die Gegenwart reicht. 'Sechs Koffer' – die Geschichte einer russisch-jüdischen Familie auf der Flucht von Ost nach West, von Moskau über Prag nach Hamburg und Zürich – ist ein virtuoses literarisches Kunststück. Aus sechs Perspektiven erzählt der Roman von einem großen Verrat, einer Denunziation. Das Opfer: der Großvater des inzwischen in Berlin lebenden Erzählers, der 1960 in der Sowjetunion hingerichtet wurde. Unter Verdacht: die eigene Verwandtschaft. Was hier auf wenig Raum gelingt, sucht seinesgleichen in der deutschen Gegenwartsliteratur: eine Erzählung über sowjetische Geheimdienstakten, über das tschechische Kino der Nachkriegszeit, vergiftete Liebesbeziehungen und die Machenschaften sexsüchtiger Kultur-Apparatschiks. Zugleich ist es aber auch eine Geschichte über das Leben hier und heute, über unsere moderne, zerrissene Welt, in der fast niemand mehr dort zu Hause ist, wo er geboren wurde und aufwuchs. 'Sechs Koffer' ist ein Roman von herausragendem stilistischen Können, elegantem Witz und einer bemerkenswerten Liebe zu seinen Figuren: Literatur in Höchstform – und spannend wie ein Kriminalroman.
Zusätzliche Informationen
Maxim Biller wurde am 15. August 1960 in Prag (Tschechische Republik) geboren.
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