Rezension zu "Terra di Sicilia. Die Geschichte der Familie Carbonaro" von Mario Giordano
Mit „Terra di Sicilia“ kann man in den Süden reisen und sich am Duft frischer Zitrusfrüchte erfreuen. Sehr stimmungsvoll und mit viel Atmosphäre spannt Mario Giordano zwischen Sizilien und München sein groß angelegtes Familienepos auf, in dessen Mittelpunkt der junge Barnaba Carbonaro steht. Als Kind des 19. Jahrhunderts tief verwurzelt in seiner Vergangenheit und Herkunft, macht sich Barnaba auf Karriere in Deutschland zu machen – und das obwohl er zeit seines Lebens nie wirklich Deutsch spricht. Das tut seinem Wirken und vor allem auch seinem Einfluss auf Familienmitglieder und Zeitgenossen kaum einen Abbruch. Aus einfachen Verhältnissen stammend, mit den (Haus-)Geistern der sizilianischen Folklore im Gepäck durchwandert der findige Protagonist das 20. Jahrhundert und übersteht so einige Wechselfälle des Lebens, die das Schicksal ihm in den Weg wirft – sei es eine unerfüllte Liebe oder zahlreiche Kinder, die mitunter die Form von Fabelwesen haben. Die italienische Folklore hat im Roman einen sehr großen Stellenwert, allerdings braucht es eine gewisse Zeit, sich an sie zu gewöhnen und sie anzunehmen. Nach einer Phase der Eingewöhnung ist sie aber als wichtiges Element des Lokalkolorits und der Verortung des Protagonisten absolut nachvollziehbar und sinnvoll.
Erzählt wird der Roman auf sehr süffige und gefällige Weise auf zwei Zeitebenen: die eine folgt chronologisch Barnabas Leben, beginnend mit dem Kennenlernen seiner Eltern und Ausführungen zu deren familiärem Hintergrund, während der andere Zeitstrang Barnabas Besuch bei seiner Familie in München in den 1960ern schildert. Beide Zeitebenen sind äußerst lebendig und anschaulich geschrieben, lassen einen tief in Barnabas Leben eintauchen und an seinen Triumphen, Misserfolgen und Frauengeschichten teilhaben. Das 20. Jahrhundert bildet dabei den illustren und farbenprächtigen Rahmen für Barnabas Aufstieg und auch seine Rückschläge. Grundsätzlich ist der Kontext sehr gut gewählt und zumeist auch passend eingebunden, auf die wiederkehrenden, eingeschobenen halbseitigen Aufzählungen der „Schlaglichter der Weltgeschichte“, die mit Barnaba kaum – wenn überhaupt – etwas zu tun haben, hätte ich allerdings verzichten können, auch wenn sie zur Einordnung der Epoche ganz nett waren. Hinzu kommt, dass der Roman sich mit seiner (Zeit-)Geschichte bis zu den 1930er Jahren ausgesprochen viel Zeit lässt und dann dem Ende fast entgegenstürzt, als könne er es gar nicht mehr abwarten endlich zum Schluss zu kommen; so entsteht doch eine gewisse Unausgewogenheit im Spannungsbogen.
Die Figuren sind durchaus interessant gezeichnet, allerdings kommt man ihnen nie so recht nahe. Zu oft driften sie ins Stereotype und Erwartbare ab, bei einer solch üppigen Familiensaga wünsche ich mir etwas mehr Identifikationspotenzial. Handlungstechnisch erscheint mir Barnabas Lebensweg überdies sehr durchkonstruiert. Es gibt sehr viele Momente, in denen der „Zufall“ gnadenlos zuschlägt und die Handlungsfäden straff in die Hand nimmt (was nicht passt, wird so hinkonzipiert, dass es irgendwie hinhaut - ein Beispiel ist das gestohlene Fahrzeug), da wäre ein gewisses Lockerlassen angebracht gewesen.
„Terra di Sicilia“ ist ein dennoch ein lesbarer Unterhaltungsroman für Leser, die das große Panorama des 20. Jahrhunderts lieben, kein Problem mit magischem Realismus haben und sich gern durch eine Familiengeschichte zwischen Heimat und Fremde schmökern.