„Die Katastrophe klingt wie aus der Zeitung; das Ereignis spielt das Geschehene bis an den Rand der Obszönität herunter; und der Tag, an dem unser Sohn einen Massenmord beging ist zu lang, stimmt’s?“ (S. 25)
Nachdem mich der Film „We need to talk about Kevin“ nachhaltig faszinieren konnte, holte ich mir die deutsche Ausgabe des Buches „Wir müssen über Kevin reden“ von Lionel Shriver, welches bereits 2003 erschien. Bei meiner Ausgabe handelt es sich um die Filmausgabe von 2012 im Ullstein Taschenbuch Verlag, die 560 Seiten umfasst. Mein Anspruch war es, mehr über die Gefühlswelt der Mutter zu erfahren und ich wurde auch nicht enttäuscht.
Eva Khatchadourian ist eine erfolgreiche Herausgeberin des Reiseführers „A Wing and a Prayer“ als sie sich mit 37 dazu entschließt, ein Kind zu bekommen. Doch anstatt eines Familienidyll beginnt ein ständiger Kampf und am Ende begeht Kevin eine schreckliche Gewalttat. Für Eva bleibt die Zeit stehen und sie fragt sich, wie viel Schuld sie selbst an dieser Entwicklung hatte…
Der Roman ist aus der Ich-Perspektive von Eva geschrieben, weshalb man sich unweigerlich in ihrem Kopf befindet und damit auch mit ihrer Version der Geschichte vorliebnehmen muss. Eine weitere Besonderheit ist, dass Kevins Tat zwar von Anfang an bekannt ist, die Details aber erst nach und nach in Form von Briefen an ihren Ehemann Franklin ans Licht kommen. Diese Erzählart führt dazu, dass die Geschichte nur sehr langsam voran geht. Die eigentliche Tat wird erst auf den letzten 60 von 560 Seiten abgehandelt.
Eva ist ein Reisefan und hat Angst vor Verbindlichkeit. Einmal zieht sie eine dreimonatige Reise ihrer Zeit mit dem kleinen Kevin vor. Oft wird sie außerdem als gefühllos und narzisstisch beschrieben, wobei sie mit den anderen Menschen ebenfalls hart ins Gericht geht (vgl. S. 384). Von Kevin wird sie als selbstgerecht, herablassend und überheblich betitelt (S. 393).
Die Entscheidung zu einem Kind fällt ihr zunächst schwer, die Mutterschaft wird als „fremdes Land“ (S. 33) bezeichnet. Mit 37 ist sie endlich bereit, diesen Schritt zu wagen und freut sich auf das neue Abenteuer. Allerdings kommen ihr schnell Zweifel an dieser Entscheidung und sie bereut Kevin, bevor er überhaupt geboren ist (S. 107). Auch später hat sie das Gefühl, sich als Mutter nicht genug angestrengt zu haben (S. 113). Eine postnatale Depression lässt sie aus der Wut auf sich selbst, versagt zu haben, gar nicht erst feststellen und stirbt fast, als sie mit einem Milchstau nicht zum Arzt geht. Sie bestraft sich immer wieder selbst.
Zudem hat Eva ab der ersten Sekunde das Gefühl, dass Kevin sie hasst. Er verweigert ihre Milch, schreit in einer Tour und weigert sich zu sprechen. Irgendwann gibt sie sogar zu, Kevins Nähe unerträglich zu finden (S. 204). Kevin nehme ihr alles, was sie je ausgemacht habe (S. 238). Trotz dieser ambivalenten Beziehung liebt Eva ihren Sohn. Als Kevin krank ist und sie gemeinsam Robin Hood lesen (S. 333), erlebt sie zum ersten Mal eine friedliche Zeit mit ihm. Außerdem besucht sie ihn regelmäßig im Gefängnis (S. 61) und hadert mit dem Ruf als schlechte Mutter, den sie ihrer Meinung nach aber absolut verdient (S. 104). Sie findet etwas Trost, als sie erkennt, dass es schwer ist, eine Mutter zu sein (S. 237) und sie ihr Bestes gegeben hat und noch gibt. Weiterhin bewundert sie Kevin für seine Außergewöhnlichkeit (S. 460), als er über PC-Viren redet oder wie er im Fernsehen auftritt (S. 494).
Die Frage nach dem „Warum“ wird immer wieder gestellt, aber nie beantwortet. Sie beschäftigt Eva sehr, auch wenn sie weiß, dass es keine befriedigende Antwort auf diese Frage gibt. Vielleicht will Eva auch eine lange Zeit gar keine Antwort finden (S. 238). Sie gibt sich selbst die Schuld zu kalt, egoistisch oder kritisch gewesen zu sein (S. 236).
Gut gefallen hat mir an dem Roman die radikal ehrliche Erzählweise. Eva geht zwar mit sich selbst hart ins Gericht, rechnet aber auch mit den veralteten Vorstellungen der Gesellschaft an die „perfekte“ Mutter ab. Dabei ist der Schreibstil intelligent und humorvoll. Es ergeben sich aber auch immer wieder interessante Blickwinkel durch Evas Ehemann, der das absolute Gegenteil darstellt. Immer wieder stellte sich mir neben dem Gedanken der Verantwortlichkeit auch die Frage nach der Unterstützung für Eva. Zu guter Letzt hat mir auch die Aufarbeitung der Gewalttat gefallen. Es ergibt sich ein allumfassendes Bild über Opfer, Schaulustige, Familie, Justiz, Gefängnis und historische Fakten.
Am Anfang fand ich den Schreibstil allerdings ungewohnt und die Briefform ermüdend. Die Geschichte kam mir an einigen Stellen ein wenig zu lang vor.
Ich würde den Roman denjenigen empfehlen, die vor einem langsamen, aber belohnenden Schreibstil (Briefform!) nicht zurückschrecken und sich für die Gefühlswelt einer Mutter, die ihr Kind nicht so lieben kann, wie es erwartet wird, interessieren. Das Buch bricht mit Konventionen und stellt die Frage nach dem „Warum“ bei Gewalttaten. Das Ende ist allerdings nichts für schwache Nerven und es hat mich einige Zeit gekostet, es gedanklich aufzuarbeiten. Ich gebe 4/5 Sterne.