Rezension zu "Der Mann im roten Rock" von Julian Barnes
Samuel Pozzi war der erste Gynäkologe Frankreichs. Er hat Ende des 19. Jahrhunderts die Frauenheilkunde als medizinische Fachrichtung mitbegründet und galt als Chirurg von Weltrang. Julian Barnes ist in einer Bilderausstellung in Los Angeles über das Portrait des Arztes gestolpert und hat nachgegraben. Herausgekommen ist ein biografischer Essay, der nicht nur Pozzis Leben schildert, sondern einen Bogen über die gesamte Belle Epoque schlägt, denn Pozzi war seinerzeit so etwas wie ein Prominenter und ein Lebemann, sein Lebensweg schneidet mehrfach den anderer Berühmtheiten seiner Zeit, und so erfahren wir allerlei über Flaubert und Maupassant, die Brüder Goncourt, über Emile Zola und den Hauptmann Dreyfus, über Sarah Bernhardt, die Familie Proust, den Grafen Montesquiou, den Fürsten Polignac - und über Oscar Wilde.
Der Stil ist sehr tongue-in-cheek, Barnes kann seinem essayistischen Esprit freien Lauf lassen - und er genießt das sichtlich. Genüsslich schwelgt er und lässt das Paris jener Jahre wieder lebendig werden; an manchen Stellen habe ich mich in der nostalgischen Belle-Epoque-Seligkeit ein wenig an Woody Allens wunderbaren Film "Midnight in Paris" erinnert gefühlt - so ein Hauch von Nostalgie und der Sehnsucht nach der guten alten Zeit im herrlichen Paris ...
Ich habe mich prächtig amüsiert bei der Lektüre, dabei hat das Buch mir gar nicht gehört. Und hier kommt auch gleich die fette Warnung: Denn die Frau meiner Träume (deren Exemplar ich mir stibitzt habe) fand es im Gegensatz zu mir anstrengend und ermüdend und nervig. Sie hat es nach der Hälfte weggelegt. Ausgerechnet ich hatte es ihr als Urlaubslektüre besorgt, denn - hey! - Julian Barnes, da macht man eigentlich nie was verkehrt!
Aber ich muss zugeben, wenn ich mich nicht in den letzten Jahren relativ intensiv mit der Literatur und den Umständen jener Zeit auseinandergesetzt hätte, wäre es mir vermutlich ähnlich gegangen. Dankenswerterweise kannte ich die meisten Namen und viele Begebenheiten zumindest andeutungsweise schon von den umfangreichen Anmerkungen der "Suche nach der verlorenen Zeit" und aus Flauberts "Education Sentimentale". Und trotzdem muss ich zugeben, dass es ein ganzes Bataillon an Zeitgenossen ist, das einen überrollt, wenn man das Buch liest. Auf jeder Seite schießt einem ein neuer Name um die Ohren. Wer da nicht ein belastbares Grundwissen mitbringt, ist verratzt und wird wenig Freude an Julian Barnes' kundigen und geistreichen Ausführungen haben.