Rezension zu "Disappearing Earth: A novel (English Edition)" von Julia Phillips
Was wissen wir über die Kamtschatka? Ich für mein Teil herzlich wenig: Ein Landstrich im äußersten Osten Russlands, eisigkalt, Vulkane, Bären, Lachse. (Also das mit den Lachsen nehme ich an, denn in Alaska gibt es auch welche - und Alaska ist ja gleich ums Eck, einmal rüber über die Dings … die Beringstraße …)
Julia Phillips war auf Kamtschatka, ein Jahr lang als Fulbright-Stipendiatin, und sie hat aus ihren Beobachtungen ein Buch gemacht: „Disappearing Earth“. Das Ganze ist kein Roman, aber fiktional, hat keine Hauptfigur, für jeden Monat ein Kapitel, ein Jahr lang, und jedes Kapitel von einer anderen Stimme erzählt. Für ethnografische Näherungen scheint das eine geeignete Methode zu sein, Juli Zeh hat es auch so gemacht, als sie uns mit „Unterleuten“ das fremde Brandenburg näherbringen wollte.
Trifft die Autorin den Ton? Den Pulsschlag der Gegend? Die Tonlage der Kultur? Ich weiß es nicht, ich kenn mich ja in Kamtschatka nicht aus. Mein Gemüt trifft sie jedenfalls, mich sprechen sie an, diese Stimmen aus dem fernen, faszinierenden Land. Denn es sind universelle Probleme, die sie treiben, neun Stunden Zeitunterschied von Moskau entfernt und auf dem Landweg unerreichbar: Die russischstämmigen Städter mit ihren Verwaltungsjobs ebenso wie die traditionsbewussten Einheimischen in den pittoresken Museumsdörfern, in denen die Alten noch während der Sommer mit den Rentieren ziehen. Es sind Geschichten vom Festhalten und Loslassen, vom Finden und Verlieren von Liebe, von jeder Generation, die sich selbst neu zurechtfinden muss in einer fundamental veränderten Welt, auch da, wo sich Polarfuchs und Schneehase Gute Nacht sagen, wo Rubelkurs und Fischfangquoten über den Wohlstand bestimmen.
Phillips’ Stimmen sind miteinander verbunden, und alle eint das große Aufregerthema des berichteten Jahres, als zwei Mädchen einfach so verschwunden sind, mitten im Touristentrubel im August am Strand von Petropavlovsk. Das fügt sich alles zu einem sehr runden Ganzen, einzig der Schluss hat mich enttäuscht, auch wenn er sich aufgedrängt haben mag. Ich will hier nicht spoilern, aber ein weniger deutliches Ende hätte mir besser gefallen, von mir aus hätte die Kamtschatka eines ihrer Geheimnisse behalten dürfen …