Rezension zu "Schmerzgrenze" von Joachim Bauer
Prof. Dr. med. Joachim Bauer beginnt sein Buch „Schmerzgrenze - Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt“ mit folgendem Satz: „Die Chancen für eine Selbstzerstörung des Menschen im 21. Jahrhundert stehen nicht schlecht.“
Diesen düsteren Worten setzt er am Ende seines Werkes eine Aufforderung entgegen: „Daher sollten wir - in Anlehnung an das Zitat Barack Obamas - ‚nicht nachlassen, nach der Welt zu streben, die sein sollte.‘“
Was die Ressourcenknappheit an materiellen Gütern wie „Wasser, Nahrung, Energie und natürliche Umwelt“ bei Zunahme der Weltbevölkerung betrifft, konnte ich ihm nicht folgen, weil ich glaube, dass für alle gesorgt ist und sein wird.
Das Kapitel „Die zwei Seiten der zivilisatorischen Medaille“ beschließt der Autor mit den Worten: „Mit Einsetzen des zivilisatorischen Prozesses wurden auch zwischenmenschliche Bindungen zu einer knappen Ressource. Die Angst, Bindungen zu verlieren, Eifersucht und das mit ihr vielfach verbundene aggressive Potenzial wurde zum Dauerbegleiter des postneolithischen Menschen.“ Hier kann ich Bauer nur voll zustimmen und danke ihm auch, dass er mir die Vorderseite der Medaille aufzeigte:
„Menschen lieben Herausforderungen. Das menschliche Gehirn ist ein Organ, das sich geradezu danach sehnt, Probleme zu lösen.“
Viel Zeit nimmt sich der Autor mit den Anfängen der Menschheit. Untersucht genau den Australopithecus, das Bindeglied zwischen dem Affen und dem Menschen.
Auf dessen Speiseplan standen neben Pflanzen lediglich einige kleine Insekten. „Tatsächlich waren Australopithecus afarensis und A. africanus nicht Jäger, sondern Gejagte.“
Der Homo sapiens habe friedlich mit dem Neandertaler zusammengelebt, erwähnt der Neurowissenschaftler, betont das Gleichheitsprinzip der Jäger- und Sammlerkulturen. Das beinhaltet auch die Gleichrangigkeit von Mann und Frau.
„Der primäre Trieb des Menschen ist Bindung“ sagte Prof. Dr. Joachim Bauer 2011 in einem Interview, welches bei YouTube zu sehen und zu hören ist.
Der Atem stockte mir, als ich das Kapitel „Die Gebärmutter der Zivilisation: der ‚fruchtbare Halbmond‘“ las. Etwa ab 13.000 v. Chr. begann in einem eisfreien Biotop in Obermesopotamien die Sesshaftigkeit der Menschen, wurde aber ab 7500 v. Chr. dort wieder aufgegeben.
Deutliche äußere Ursachen für diesen Rückzug konnten nicht gefunden werden. Bauer folgt einer anderen Erklärung: „Die Geschichte von Evas Griff nach dem verbotenen Apfel beruht allerdings auf einen Übersetzungsirrtum. Die verbotene und deshalb mit der Verweisung aus dem ‚Paradies‘ bestrafte Tat war nicht der Griff nach einer verbotenen Frucht, sondern das gewaltsame Handanlegen an einen Baum. Sollten die Autoren der Paradieslegende den Verdacht gehabt haben, das massive Abholzen der Wälder des ‚fruchtbaren Halbmondes‘ habe einen Beitrag zur Zerstörung ihres Paradieses geleistet?“
Um wie viel schlauer waren unsere Vorfahren? Sie erkannten, dass ihre neue Lebensweise das natürliche Gleichgewicht gefährdet hatte.
Was der Vertreibung aus dem Paradies folgte, kennen die Bibelfesten. Kain erschlug Abel, der Ackerbauer den Schäfer. Das Motiv war Eifersucht.
„Was sich innerhalb von nur 5000 Jahren zwischen 9000 und 4000 Jahren vor unserer Zeit abspielte, war die ‚brutalste Veränderung, die der Homo sapiens bis dahin durchlaufen hatte.“
„Ressourcenmangel, die Erfindung des Eigentums und der Einzug des ökonomischen Prinzips“ führten zum seelischen Schmerz, den anzuzeigen und zu beseitigen die gesunde Aggression diene. Aufgestauter Schmerz komme in verschobenen Aggressionen zum Ausdruck. Unbeteiligte werden so, häufig Jahre später, zu Opfern, einzelne Menschen oder ganze Völker.
Aggression ist also kein Trieb, wie es Sigmund Freud und Konrad Lorenz postuliert haben, sondern eine Reaktion.
Ich danke Prof. Dr. med. Joachim Bauer herzlich, dass er keine Literatur gescheut hat, um so umfassend über den Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt zu informieren und auch Perspektiven aus dem menschlichen Dilemma aufzeigte.
Vera Seidl