Rezension zu "Orangen sind nicht die einzige Frucht" von Jeanette Winterson
Ich hatte bis dato zwei Romane von Winterson gelesen und fand sie so furchtbar, dass ich sie weder ganz gelesen noch behalten hatte. So hielt sich meine Begeisterung in Grenzen, als ich für ein Kolloquium wieder einen Winterson lesen sollte. Der Roman konnte mich jedoch nicht nur überzeugen, sondern von Seite eins an hellauf begeistern, so dass ich ihn hier gern vorstellen möchte, zumal er vor einigen Jahren neu auf Deutsch verlegt wurde. Es handelt sich um Wintersons Debütroman aus dem Jahr 1985, den sie im Alter von 25 Jahren geschrieben hat und hat autobiographische Züge.
Worum geht es?
Die Ich-Erzählerin Jeanette wird in den 1960ern nahe Manchester als kleines Kind von einem Ehepaar adoptiert, das einer Pfingstgemeinde angehört. Sie ist dazu bestimmt, Missionarin zu werden. Ihre Mutter ist streng religiös und ein sehr aktives Mitglied der Gemeinde. Erst als die Behörden mit Gefängnis drohen, schickt ihre Mutter sie in die Schule. Jeanette bringt sich zunehmend selbst in der Gemeinde ein, solange bis sie sich in Melanie verliebt. Während das Mädchen in dieser Liebe nichts Schlechtes sehen kann, reagieren Mutter und Pastor entsetzt.
Kritik
Die einzelnen Kapitel tragen die Überschriften von Büchern des Alten Testaments. Genesis zeigt die Entstehungsgeschichte, also die frühe Kindheit der Erzählerin, Exodus schildert wie sie in die Schule kommt usw. Der Lebensweg des Mädchens wird bis ins Erwachsenenalter (Buch Ruth) erzählt.
Der Roman ist interessant – von Beginn an. Ich war neugierig, mehr über die Pfingstgemeinde und das Leben des kleinen Mädchens in diesem Umfeld zu erfahren. Spätestens mit ihrer Jugend und der heimlichen Liebe zu Melanie wird es dann auch richtig spannend, denn Homosexualität wird auf das Wirken von Dämonen zurückgeführt.
Der Roman ist humorvoll – das ist bei der Thematik gar nicht so naheliegend, doch ich habe an vielen Stellen lachen müssen, da Winterson die Kindheit so skurril witzig schildert. Als Jeanette in die Schule kommt, bringt sie ihren Klassenkameraden – zu deren Schrecken – all das bei, was sie selbst über die Hölle und Dämonen gelernt hat, mit dem Ergebnis, dass alle anderen Kinder völlig verschreckt sind und Angst vor dem Mädchen bekommen. Dafür wird sie von den Lehrern gescholten und es wird überlegt, sie wieder von der Schule zu nehmen. Auch sind ihre Stickereien düstere Warnungen, während die anderen Kaninchen und Schäfchen fabrizieren. Jeanette findet sie tiefsinnig, ist den anderen Kindern ohnehin intellektuell haushoch überlegen und versteht nicht, warum die anderen bessere Noten erhalten. Das Kind erinnerte mich immer mal wieder an Wednesday, nur mit einem religiösen Drall. Auch hat der Roman eine ganz eigene, ein bisschen bissige Art von Humor, wenn die Mutter, die von Beginn des Romans als resolute und dominante Person gezeichnet wird, sich plötzlich dafür einsetzt, dass das Weib in der Gemeinde zu schweigen habe. Winterson enttarnt auch die Doppelmoral dieser Gemeinde, wobei sie es meines Erachtens vermag diese sehr spezifische radikale Gruppe zu karikieren, ohne allgemeine religiöse Gefühle zu verletzten. Es sei denn, man glaubt an Dämonen – dann könnte der Roman vielleicht nichts sein.
Der Roman ist großartig geschrieben – das liegt nicht nur an der Hauptgeschichte, die erzählt wird, sondern auch daran, dass in den Roman unzählige kleine Geschichten eingewoben sind. Jeanette ist ein Kind, das mit den Geschichten der Bibel aufgewachsen ist, sie hat nun vielleicht daher ein besonderes Talent, sich selbst Erzählungen auszudenken. Wir wissen nicht, ob sich die Erzählerin an die Geschichten der Kindheit erinnert oder ob sie ein Mittel sind, mit denen sie im Nachhinein die Situationen deutet. Ein Beispiel: an einer Stelle liest man plötzlich ein Märchen von einem Prinzen, der in einem Zwiegespräch mit einer Gans deutlich macht, dass er nur eine perfekte Ehefrau nehmen möchte. Seine Hofangestellten machen sich sogleich auf die Suche. Es dauert Jahre, dann hat er sie gefunden. Nur möchte sie ihn gar nicht heiraten. Und dann nimmt auch dieses Märchen noch eine schräge Wendung.
Wem könnte dieser Roman gefallen? Grundsätzlich allen, die gern anspruchsvolle Themen in einer humorvollen und erzählerisch ansprechenden Form präsentiert bekommen. Der Roman liest sich sehr locker und leicht. Ich habe ihn fast in einem Rutsch durchgelesen.