Rezension zu "Dubliner" von James Joyce
Joyce gibt hier ein buntes Panoptikum an Figuren wieder, die er in Ereignissen auftreten lässt, die manchmal alltäglicher nicht sein könnten - zumindest für das damalige Irland. Ein Priester stirbt und ein kleiner Junge beobachtet den Leichnam. Ein etwas verklemmter, junger Mann, sucht die Freundschaft zu einer älteren Frau und ist schockiert als er merkt, dass diese mehr fühlt. Eine Mutter setzt sich für den Lohn ihrer Tochter ein, vermasselt ihr so aber die Karriere. Und am Ende befinden wir uns in der längsten Geschichte, „Die Toten“, auf einem Familienfest, das mit allem zu versöhnen scheint. Besonders die sehr kurzen Geschichten haben es mir angetan, da sie wie durch ein Mikroskop auf kritische Situationen schauen lassen. Aber auch die längste Geschichte fand ich grandios. Ein fulminantes Ende, das mich an ein Orchester Stück erinnert.
Joyce ist nicht nur ein feiner Beobachter, er legt auch den Finger in die Wunde der damaligen irischen und vor allem katholischen Gesellschaft. Dabei kritisiert er die Stagnation, das mangelnde Bewusstsein für Fortschritt auf gesellschaftlicher und intellektueller Ebene. Man schmort auf der Insel in seinem eigenen Saft, trinkt sehr viel Alkohol und schaut, patriotisch, aber auch mir lamoryanter Selbstzufriedenheit auf die Anderen, die Schuld am irischen Leid sind. Immer wieder kritisiert er versteckt, aber doch recht offensichtlich die katholische Kirche, die englische Regentschaft und den mangelnden Mut der irischen Bevölkerung, die sich oft hinter ihrem Nationalstolz versteckt.
Erstaunlich fand ich den Auftritt sehr vieler, sehr starker Frauen, die für sich eingestanden sind und trotz widriger Umstände ihren Weg fanden. Viele der Geschichten endeten abrupt, so dass man erst mal alleingelassen zum Grübeln aufgefordert wurde, wie es denn nun weitergeht. Glücklicherweise hatte ich eine tolle Lese Partnerin, mit der ich vieles zusammenfantasieren konnte.
Selbstverständlich eckte Joyce damit an. Beliebt waren seine Geschichten in keinster Weise, und es hat auch über ein Jahrzehnt gedauert, bis er sie gesammelt veröffentlichen konnte. Einmal waren sogar die Druckblätter schon fertig und wurden aus Sorge vor der Reaktion der Leser vernichtet.
James Joyce war ein unbequemer Schriftsteller, der mit seiner fortschrittlichen Denkweise seinem Volk weit voraus war. Das Ganze hat er mit Erfolglosigkeit und einem unsteten Lebenswandel bezahlt. Das kann man in dem tollen Nachwort, verfasst vom Übersetzer, noch einmal kurzweilig nachlesen. Erfreulich finde ich, dass er seine große Liebe gefunden hat, die man in vielen seiner Geschichten wieder findet. Mich haben die Episode. näher an Irland heran gebracht und mein Projekt „Ulysses“ steht somit jetzt auf einem wunderbaren Fundament.