Rezension zu "Hillbilly-Elegie: Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise" von J. D. Vance
Was für ein Buch ist das eigentlich? Eine Autobiographie? Ein Sachbuch? Ein Roman? Ein autobiographisches Sachbuch? Eine Autobiographie mit sachbuchartigen Einschüben, die sich in weiten Teilen wie ein Roman liest? Egal was nun, aber etwas mit „elendspornografischen“ Anklängen? Und der Autor, James David Vance, entweder ein Verräter oder der Erklärbär für das, was man in USA gemeinhin „White Trash“ nennt, die weiße Unterschicht, die den Aufstieg eines Donald Trump - angeblich - erst ermöglicht hat? Der Autor selbst sagt: Es ist die Geschichte einer Familie.
Vorab: „Hillbilly-Elegie“ ist während der Präsidentschaft von Barack Obama erschienen, Donald Trump kommt in diesem Buch namentlich nicht vor. Haupt“person“, wie der Titel sagt, ist im übergeordneten Sinn die weiße Arbeiterschicht, in Vances Fall der Bewohner von Kentucky, die (stark zusammengefasst) irgendwann nach dem ersten, spätestens nach dem zweiten Weltkrieg, ihren ländlich geprägten, „strukturschwachen“ Bundesstaat verließen, um in anderen Teilen des Landes Auskommen für ihre Familie zu finden, es zu mittlerem Wohlstand brachten, bis im Fortgang der Jahrzehnte die großen Fabriken dichtmachten, Autos nun in Asien gebaut wurden, die Nachkommen der Arbeiter, die einst durchaus gutes Geld mit nach Hause gebracht hatten, auf der Strecke blieben, u. a., weil sie die Spielregeln von denen, die im „weißen Kragen“ zur Arbeit gingen, nicht spielten.
J. D. Vance ist somit eine Ausnahmeerscheinung: aufgewachsen in einer in vieler Hinsicht dysfunktionalen Familie, aber genauso gesegnet mit Familienmitgliedern und Wegbegleitern, die ihm Halt gaben und seinen Aufstieg aus dem Arbeiter-, oder heute in vielen Fällen Arbeitslosenmilieu, erst ermöglichten. Somit habe ich das Buch nicht als Abrechnung, z. B. mit seiner drogensüchtigen Mutter, gelesen, die mit seiner Erziehung klar überfordert war und von einem Ehemann zum nächsten zog, oder seinem Vater, der ihn zur Adoption freigab und sein Heil in einer Freikirche suchte (und fand). Gegen einige Schweigegebote hat Vance zweifellos verstoßen, Schweigegebote, die es in Familien, egal wo, egal welcher Schicht, gibt, aber besonders auch mit dem Leben der Menschen zu tun zu haben scheint, von denen Vance erzählt. Merke: Die Familie steht über allem. Womöglich behandelt man seine Nächsten nicht gerade mit Respekt, aber trotzdem steht man irgendwie füreinander ein, festhaltend an einem Ehrenkodex, der besagt, dass Blut dicker ist als Wasser. Zur Ausnahmeerscheinung wird Vance, weil er einer von jährlich 200 Absolventen der juristischen Fakultät der Eliteuniversität Yale ist. Aber, wie es im Vorwort heißt, das alleine prädestiniere ihn nun nicht automatisch, ein Buch zu schreiben. Vance ist einer der Wenigen, die beide Seiten kennen: die Lebenswirklichkeit seiner Herkunftsschicht, der sogenannten Hillbillies, und die der „Leute mit dem Fernsehakzent“, in die er sich trotz aller Hindernisse hochgearbeitet hat.
Eine zentrale Figur des Buches ist J. D. Vances Großmutter, genannt Mamaw, die, so erzählt er, im zarten Alter von zwölf eine geladene Waffe an den Kopf eines Diebes gehalten hatte, als der versuchte, die Kuh der Familie auf einen Anhänger zu verfrachten. Mamaw, die drastische Worte wählt, als ihr Enkel ihr einen – frühen und unzutreffenden – Verdacht anvertraut, homosexuell zu sein. Mamaw, die einige Jahre darauf dagegen ist, dass er sich bei den US-Marines einschreibt und einen ihrer Repräsentanten so nachhaltig beeindruckt, dass der lieber keinen Fuß auf ihre Veranda setzt, sondern es vorzieht, vom Vorgarten aus mit ihr zu sprechen. Mamaw, die, nach nicht gerade gesundheitsförderndem Lebensstil einen frühen Tod stirbt. Mamaw ist, und das drängt sich nach dieser kurzen Schilderung nun nicht unbedingt auf – J. D. Vances größter Halt, die Mutterfigur, die er in seiner eigenen Mutter schmerzlich vermisst hat und die ihm letztendlich am meisten von dem Rüstzeug mitgegeben hat, das er brauchte, um sich aus der Lebenswirklichkeit vieler, der meisten Menschen seiner Klasse zu entziehen und einen kritischen Blick nicht von außen, sondern von innen entwickeln zu können.
„Hillbilly-Elegie“, 2016 in den USA erschienen und jetzt auch (mit Glenn Close in der Rolle der Mamaw) verfilmt (und verrissen), hat einiges an Aufmerksamkeit erregt. Die Zeit vergleicht „Hillbilly-Elegie“ mit Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“, der seine Herkunft aus der französischen Arbeiterklasse mit erworbenem soziologischen und philosophischen Instrumentarium beschrieben hat, und kritisiert, dass es „nicht einmal ein wirklicher Nachruf auf jene stolze Hinterwäldlerkultur der Appalachen“ sei. Das mag, wenn Vance sein Buch mit solchem Anspruch geschrieben haben sollte oder zugelassen hat, dass es so beworben wird, eine berechtigte Kritik sein. Anderenfalls hat man ein persönliches Memoire kritisiert, dass es Erwartungen nicht erfüllt, die man meint, daran stellen zu können. Als könne man eine Geschichte nur auf eine Weise „richtig“ erzählen. Genau das glaube ich nicht. Genauso wenig, wie mich interessiert, mit welchem Radiomoderator welcher politischer Couleur Vance heute - angeblich - vornehmlich spricht – aber das war ein anderer Artikel. Und nichts, was meinen positiven Eindruck von dem Buch geändert hätte.