„Eine gewöhnliche Geschichte“ ist der erste der drei Romane von Iwan Gontscharows, die jeweils im Abstand von 10 Jahren veröffentlicht wurden und von denen „Oblomow“ der wohl bekannteste ist. Nach Jahrzehnten wurde der Roman von Vera Bischitzky neu übersetzt und erschien im März 2021 bei Hanser.
Erzählt wird darin die Geschichte des jungen Alexander Adujew, der mit Anfang 20 aus der Provinz nach St. Petersburg kommt und voller Tatendrang seinen jugendlichen Träumereien nachjagt. Mit seinen romantischen Vorstellungen von ewiger Liebe und wahrer Freundschaft fällt es ihm von Anfang an schwer, sich in der Großstadt zurecht zu finden. Verkörpert wird die Unnahbarkeit der Stadt durch seinen Onkel, der die Rationalität und Nüchternheit zu seinen Maximen erhoben hat. Während sich Alexaner dem "echten" Leben unterzieht, sich verliebt, betrogen wird und betrügt, schlägt seine anfängliche Euphorie zunehmend in Enttäuschung um. Schließlich mündet sie in einen Pragmatismus, gegen den - trotz allen Aufbäumens - nicht anzukommen ist.
Iwan Gontscharow muss ein außergewöhnlich guter Beobachter gewesen sein, so anschaulich und lebendig wirken die beschriebenen Szenen. Die Dialoge sprühen vor Witz, feiner Ironie und Anspielungen, die genau den richtigen Ton treffen und das Lesen zu einem echten Vergnügen machen.
Insgesamt hat der Roman wenig Fundamentales, was man sonst häufig bei russischen Schriftstellern findet. Vielmehr geht es um gewöhnliche Probleme gewöhnlicher Menschen mit ihren gewöhnlichen Ängsten und Schwächen. Die Verzweiflung bleibt bei Gontscharow eine persönliche.
Zugleich eröffnet der Roman einen lohnenden Blick auf die russische Gesellschaft Mitte des 19. Jahrhunderts, auf den Gegensatz zwischen dem alten, beschaulichen Russland und der umtriebigen Großstadt. Nebenbei wird das Verständnis von Arbeit und Pflichterfüllung, Familie, überkommenen sozialen Gefügen und modernen Lebensformen, Unabhängigkeit, Individualismus, Vereinzelung betrachtet und auseinander genommen.
Die Schlussfolgerungen bleiben jedoch dem Leser überlassen und so spürt man die Zerrissenheit des Helden, der seinen Platz in der Welt immer verzweifelter sucht, hautnah. Gerade in der ersten Hälfte hat mich fasziniert, wie es gelingt, eine Nähe zu seinen Protagonisten aufzubauen, für die auch Jahrhunderte kein Hindernis darstellen.
Ich bin froh, dass ich hier auf die Neuübersetzung aufmerksam wurde. Eine gewöhnliche Geschichte, ungewöhnlich gut geschrieben und übersetzt.