Mir ist bewusst, dieses Buch wurde vor über 40 Jahren geschrieben. Gesellschaft, Sprache und Literatur haben sich mittlerweile geändert. Der Vergleich mit heutigen Erwartungen mag hinken, aber dennoch möchte ich euch meinen ehrlichen Leseeindruck schildern. Unabhängig von Argumenten a la „das war früher eben so“. Wie immer gilt, das ist meine persönliche Meinung und nur weil es mir so ging, muss es euch nicht auch so gehen.
Das Buch war für mich kaum auszuhalten: die explizite sexuelle Gewalt gegenüber Frauen, insbesondere auch indigener Frauen, der wiederholte Rassismus, Antiziganismus, Sexismus und den körperlichen und seelischen Missbrauch - davon vieles für meinen Geschmack nicht ausreichend aufgearbeitet. Gefühlt kam jedes potentiell traumatische Thema in diesem Buch mindestens einmal vor.
Mir hat nicht gefallen, wie der magische Realismus verwendet wurde. Er taucht zwischendrin immer mal wieder auf, wenn es der Dramatik wegen gebraucht wird. Aber richtig vorstellen konnte ich mir darunter nicht viel.
Esteban Trueba ist ein misogynes, rassistisches, selbstverherrlichendes, abstoßendes, manipulatives, gewalttätiges Arschloch. Besonders zu Anfang des Buches geht es seitenweise darum, wie er ständig Frauen vergewaltigt. 🤮 Ich verstehe, die Intention, aufzuzeigen, welche Gräuel Frauen damals angetan wurden und die frauenfeindlichen sowie auch ausbeuterischen Strukturen offenzulegen. Aber ich hatte wenig Interesse daran, in dieser Ausführlichkeit und aus der Ich-Perspektive mehr über die Gefühlswelt und Wehklagen eines solchen Menschen zu erfahren.
Ich habe nur weitergelesen, weil sich innerhalb der nachfolgenden Generationen Widerstand gegen ihn formt. Von den Arbeitenden, die er ausbeutet, von den Frauen und seinen Kindern. Interessant und sehr ausführlich (ausufernd teilweise) waren die Einblicke in das damalige Leben in Chile, den politischen und sozialen Entwicklungen und die Passagen über Jamie, Nicolas und Amanda. Albas Leben wiederum war so heftig und so tragisch. Das hat mich einfach fertig gemacht.
Meine Hoffnung, dass Esteban zur Rechenschaft gezogen wird, hat sich nicht erfüllt. Am Ende wurde ihm verziehen, er wurde von Tochter und Enkelin und dem Geist seiner verstorbenen Frau geströstet und ich konnte es nicht nachvollziehen. (Zur Info, er hat die Tochter fast totgeprügelt und der Mutter die Zähne ausgeschlagen, sodass sie dann eine Prothese tragen musste.) Und als ich dachte, Esteban wäre der Schlimmste, kamen die Szenen, in denen seine Enkelin Alba auf die brutalste Art von seinem Nachkommen gefoltert wurde. Hier wurde ein sehr dunkles Kapitel der chilenischen Geschichte erzählt.
Fazit: Der Knoten in meinem Hals war beim Lesen so dick, da hat sich meine Wut direkt im Bauch gestaut, bis mir übel wurde. Ich habe noch kein Buch gelesen, dessen Beschreibungen mich so angewidert haben.
Irgendwie hatte jeder der Charaktere in diesem Buch, insbesondere die Frauen, ein richtig beschissenes Leben. Und so wichtig es auch sein möge, über diese Schicksale zu schreiben, so war’s trotzdem zu viel für mich. Einfach zu viele Demütigungen, Traumata, Gewalt. Auch das Ende hinterließ einen bitteren Geschmack auf meiner Zunge. Denn Alba fasst ihres und jedes dieser unsagbar grausamen Leben vor ihr als unvermeidbares Schicksal auf. So bleibt nur das Aushalten, das Akzeptieren? Wie unfassbar niederschmetternd.
Kritische Bemerkung zum Schluss: warum legt man ein Buch neu auf, ohne es inhaltlich zu überarbeiten? Oder zumindest ein Vorwort anzubringen, denn unreflektierte Ismen gibt’s hier wie am laufenden Band inklusive N-Wort, Z-Wort, I-Wort, usw. Meine komplett neu gestaltete Ausgabe ist von 2022!