Jemand hat mal gesagt, mit Ian McEwan sei es wie mit einem guten Merlot. Man macht mit ihm nichts falsch. Er ist immer gut und immer passend, aber nie wirklich herausragend. Bei „Kindeswohl“ und „Abbitte“ muss ich ihm widersprechen, die finde ich persönlich beide überwältigend, aber dieses Buch ist tatsächlich wie ein guter Merlot. Es ist ein gutes und ein passendes Buch und ganz klar eins, was man gelesen haben sollte. Es ist bildlich, es ist herrlich witzig und auch ein bisschen böse und McEwan zeigt sich als scharfer Beobachter, ohne jegliche Schärfe einer Belehrung.
Worum geht es?
Michael Beard, Schürzenjäger, Physiker und Nobelpreisträger ist in die Jahre gekommen. Seine zwanzig Jahre jüngere Frau betrügt ihn mit einem Handwerker, er selbst zehrt seit über zwanzig Jahren nur noch von dem Ruhm, den ihm seine Forschungen zur Einwirkung von Licht auf Materie eingebracht haben. Sein Name dient zur Aufwertung von Forschungsprojekten, an denen er nicht beteiligt ist, er wird immer wieder zu den gleichen Vorträgen eingeladen, er ist als Leiter eines Instituts für erneuerbare Energien eingetragen. Nach der Teilnahme an einer Klimakonferenz in Spitzbergen stürzt er sich in ein Projekt zur künstlichen Photosynthese, um die Welt aus der Energiekrise zu befreien.
Kritik
Das Buch hat mir von der ersten bis zur letzten Seite sehr gut gefallen. Das liegt vor allem an der Zeichnung oder eher Überzeichnung des Protagonisten, aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt wird, und an der enormen Portion britischen (und oft auch sehr schwarzen) Humors. Es gibt unterschiedliche Arten von Satire, darunter eine, die bei mir eher einen bitteren Beigeschmack hinterlässt, im Grunde unerträglich belehrende Abhandlungen zu modernen Themen, die mir am Ende eine faustgrobe Moral verkaufen möchten. Und dann gibt es diese schalkhafte Satire, die ich viel in britischer Literatur entdecke, mit ihren überspitzen Charakteren, die eher beobachtet und überzeichnet und dem Leser die Wertung überlässt. Dabei ist Ian McEwan in der Darstellung einiger Szenen etwas derb, zart besaiteten Gemütern der gepflegten, intellektuellen Unterhaltung, die lieber schmunzeln als lachen, könnten seine neun Lachsbrötchen, die er vertilgt, bevor er (mit entsprechender Übelkeit) ans Rednerpult tritt, übel aufstoßen.
Beard wird so unsympathisch portraitiert, dass er mir ganz ans Herz gewachsen ist. Er ist skrupellos, stets auf seinen Vorteil bedacht, hedonistisch, chauvinistisch und macht zu meiner großen Freude bis zum Schluss so gar keine Charakterentwicklung durch. Mit einem Vortrag, in dem er darauf verweist, dass es nicht nur kulturelle oder anerzogene Gründe dafür gibt, dass weniger Frauen in den MINT-Fächern tätig sind, sondern auch genetische, die in der Evolution begründet sind, tritt er einen Shit-Storm los (der allerdings dann auch wenige Wochen später im Wasserglas verpufft). Er wird als Nazi-Professor tituliert, man distanziert sich von ihm, was er alles mit äußerst stumpfer Gelassenheit hinnimmt. McEwan karikiert hier (der Roman erschien 2010 erstmals) die Cancel Culture. Als eine israelische Wissenschaftlerin Stellung zu den Vorgängen bezieht, zeigt sich, wie die Beleidigten und Empörten dann doch ihre Fahne wieder in den Wind hängen.
Da Humor eine ganz individuelle Sache ist und man ihn weder erklären noch beschreiben kann, kommt hier eine kurze Textprobe aus diesem Zusammenhang.
Textprobe
„Unter den Demonstranten waren ein halbes Dutzend ältere Frauen. Eine von ihnen kam hinter einem Polizisten hervor, nahm eine Tomate aus einer braunen Papiertüte und warf damit nach Beard. Aus nur drei Metern Entfernung. Zum Wegducken blieb keine Zeit. Faule Tomaten, so die gängige Vorstellung. Diese hier war zwar weich, sah aber noch äußerst genießbar aus. Sie klatschte an sein Revers und verweilte dort einen Moment. Als sie hinunterplumpste, fing er sie auf und warf sie zurück. Eine völlig spontane spielerische Geste wie zum Spaß, wie er hinterher zu erklären versuchte. Ganz gewiss nicht böse gemeint. Warum sonst hätte er den Wurf so lässig ausgeführt? Die inzwischen aufgeplatzte Tomate traf die Frau mitten ins Gesicht. Rechts neben der Nase. Die Frau, etwa in Beards Alter und ähnlich füllig, stieß ein wehleidiges Jaulen aus, schlug die Hände vors Gesicht, schmierte dabei das Ganze noch breit und sank gleichzeitig in die Knie. In Farbe ergab das ein dramatisches Bild. Von hinten aufgenommen zeigte es Beard riesenhaft über einer am Boden kauernden Frau.“ (audiobook, cap. 48).
Man kann das Buch sicher auch als eine sehr frühe Behandlung des Themas „Klimawandel“ lesen oder sich auf die Suche nach erneuerbaren Energien fokussieren. Natürlich gibt McEwan auch viele Informationen, allerdings en passant, nicht in Form von Vorträgen eines auktorialen Erzählers. Ich habe es als heitere Satire auf den Wissenschaftsbetrieb gelesen. Richtig großartig ist eine Szene, in der Beard selbst eine Begebenheit schildert, die er im Zug erlebt hat und die von Wissenschaftlern aus dem Publikum als erfunden und als Wanderanekdote abgetan wird. Damit zeigt McEwan wie die Wissenschaft versucht, Erlebtes als Erfundenes zu entlarven, mit diesen wissenschaftlichen Erklärungen wird zugleich die Geisteswissenschaft in starkem Kontrast zur Naturwissenschaft karikiert – durch einen Autor, der natürlich selbst zu ersteren zählt. Ein ganz bezaubernder postmoderner Kommentar. Ich sollte noch erwähnen, dass auch im Kontext der Textprobe ein Streit zwischen den Disziplinen schwelt.
Wem könnte das Buch gefallen? Das ist schwierig zu sagen. Das sind nicht unbedingt die eingefleischten McEwan Fans, die ich hier im Auge hätte, sondern vielleicht eher diejenigen, die Heinz Strunk lieben. Man muss unsympathische Protagonisten mögen.