Rezension zu "Wie man seine Tochter liebt" von Hila Blum
Ganz bezeichnend sind auf dem Cover dieses Romans zwei Bilder zu sehen: es sind Fotografien, Momentaufnahmen, und obwohl sie so viel aussagen, zeigen sie doch nur einen winzigen Teil eines Lebens, einen Abschnitt, einen Ausschnitt. Genau so ist auch dieser Roman aufgebaut: kleine Abschnitte, kleine Szenen, mal ein- und erleuchtend, mal ganz banal.
„Als ich meine Enkelinnen das erste Mal sah, stand ich jenseits der Straße, traute mich nicht näher heran. In den Vororten von Groningen sind die Fenster groß und tief…“ – So beginnt dieser Roman, in dem Ich-Erzählerin Joela schon ganz zum Anfang klar macht: ihre Tochter Lea hat die Brücken hinter sich abgebrochen, lebt ein ganz eigenes Leben, an dem sie ihre Mutter nicht teilhaben lässt. Wie konnte es soweit kommen?
Joela beginnt zu erzählen, von ganz vorne; sie macht klar, wie sehr sie ihre Tochter immer geliebt hat, schon als Baby, als Kleinkind, als Schulkind, als Teenie… „Ich habe mich nach meiner Tochter gesehnt, darf man das? Ist das gesetzlich erlaubt? Und Lea seufzte, obwohl sie damals noch nicht erschöpft von ihrer Jugend war, drehte sich auf den Rücken, streckte mir die Arme entgegen und sagte, das hast du prima abgepasst, ich verteile gerade Gratisumarmungen.“ (S. 100)
Die Liebe, von der Joela erzählt, ist eine universelle Mutterliebe. Manche ihrer Geschichten erscheinen wie ein allzu kurzes Aufflackern einer Erinnerung, bei der nur Joela alleine weiß, wie sie sich ins Gesamtbild fügt; doch gleichzeitig wird sich jede Mutter wiederfinden in diesem Gefühl, ihr Kind umsorgen, behüten und vor Enttäuschungen bewahren zu wollen - und gleichzeitig auch gerade darin zu scheitern.
„ ‚Fürchteten Sie die Unumkehrbarkeit daran? (…) Ein Kind ist geboren‘, sagt Dr. Schönfeld, ‚und das lässt sich nicht rückgängig machen. Man kann ein Kind nicht ungeschehen machen, das ist fürs ganze Leben.‘ ‚Ah‘, sage ich erstickt, ‚nein, nein. Umgekehrt. Ich hatte Angst vor der Umkehrbarkeit. Vor der Umkehrbarkeit fürchtete ich mich.‘“ (S. 199)
Die Handlung dieses Romans beschränkt sich auf die Mutter-Tochter-Beziehung von Joela und Lea, bricht nur einige Male, wenn Joela von sich als Tochter spricht, von anderen Familien, auch von fiktiven Familien aus Büchern. „Ich sehe all die sonderbaren Methoden, mit denen Mütter ihre Töchter aufs Leben vorbereiten, und immer ist es mit Kummer verbunden.“ (S. 296)
Natürlich ist dieses Buch kein Ratgeber, der den genauen Weg aufzeigt, „wie man seine Tochter liebt“ und trotzdem ist der Titel treffend. Darum geht es. Um nichts weniger, aber auch nichts mehr.
Doch die Sprache, die Hila Blum dafür einsetzt, ist ein wahrer Genuss. Zärtlich und intensiv seziert sie die winzigen Ausschnitte, die Momentaufnahmen, untersucht sie mit der Lupe, vergrößert flatterhafte Regungen zu greifbarer Symbolik. Familiäre Momentaufnahmen reihen sich zu nachvollziehbaren persönlichen Entwicklungen, die in einer zwar erwarteten, aber dennoch überraschend dramatischen Wendung enden.
Es ist eines dieser Bücher, in dem man auf jeder Seite Sätze anstreichen kann, weil sie so aussagekräftig oder so poetisch sind. „Gelegentlich wachte ich noch im Strudel eines Gefühls auf, das weder Phobie noch Schmach war, ein schwankender Tuscheschwaden im Wasser der Seele…“ (S. 204) Diese wunderbar formulierten Alltäglichkeiten lassen in meinen Augen erkennen, dass hier eine Meisterin der feinen Beobachtungen und gewaltiger Sprachgewandtheit am Werke war.
Ein sehr reflektierter und kluger Roman, der zugleich viel Platz für die eigenen Interpretationen lässt.
„Wann immer ich fortan Lea fotografierte, war das Heben der Kamera vor meiner Tochter die hinterhältige Wahl einer Version der Realität unter vielen anderen.“ (S. 34)