Rezension zu "Zwischen den Zeiten" von Gunnar Decker
Ich bin einige Jahre älter als Gunnar Decker, für mich war „1965 – der kurze Sommer der DDR“, das Jahr, das Decker im gleichnamigen Buch beschreibt, der Beginn meiner Rezeption von Kunst, Kultur, Literatur, Film und auch ganz besonders von DDR-(Kultur-)Politik.
Aufgewachsen in einem „kulturaffinen“ Elternhaus begegnete ich frühzeitig den von Gunnar Decker in seinem neuen Buch charakterisierten und beschriebenen Künstlern und Kunstwerken. Der Begriff Buch ist in diesem Fall aber vielleicht nicht ausreichend, ich würde es ein Kompendium der späten DDR-Kunst- und Kulturszene nennen, aber es ist auch eine Art Geschichtslesebuch. „Zwischen den Zeiten“ ist ein Teilzitat von Christa Wolf, aber es birgt für mich eigentlich einen noch größeren Zeitraum. Die gesamte DDR-Zeit lag zwischen den Zeiten, beginnend spätestens 1946 mit der Vereinigung von KPD und SPD, endend frühestens mit dem Tag der Wiedervereinigung 1990. Dazwischen gab es kulturelle Klassen- und Gewissenskämpfe, die oftmals in die Irre und manchmal sogar ins Gefängnis, in den Tod oder in die BRD führten.
Beginnend mit dem Prolog hatte ich erhebliche Schwierigkeiten, den Gedankengängen Deckers zu folgen. Per se sind offenbar für ihn Westdeutsche mit dem Siegerblick ausgestattet, Ostdeutsche hingegen fühlen sich per se verraten und verkauft. Mein Eindruck ist ein anderer, Decker sieht es aus der Perspektive des verkannten Wissenschaftlers an der Humboldtuniversität. Ich sehe es aus der Perspektive eines von (politischen) Zwängen befreiten Menschen. Das heißt nicht, dass mir die Bananen und Apfelsinen in den Schoß geworfen wurden, aber ich wurde – manchmal nach heißen Diskussionen – als gleichwertige Person auch von „Westlern“ anerkannt, die vor mir kaum je einen „Ossi“ gesehen hatten. So ging mir also das „Wiedervereinigungs-Bashing“ im Vorwort gehörig auf die Nerven.
Ich habe mich trotzdem an den umfangreichen Inhalt herangetastet und einige interessante Aspekte gefunden, die mir noch nicht geläufig waren. Zum Beispiel mit Markus Wolfs „Troika“ habe ich mich nie beschäftigt, umso mehr aber mit Konrad Wolf. Da ich in den 1970er Jahren im Ostberliner Verlagswesen tätig war, sind mir viele der Geschichten um die Schriftsteller und Künstler und um ihre Werke oft schon bekannt gewesen. Trotzdem ist die Fülle der zusammengetragenen Details beeindruckend, aber auch etwas erdrückend.
Decker also spezialisiert sich in diesem Buch auf die späten Jahre der DDR. Da er sich nun nicht nur mit der Kunst- und Kulturszene in der DDR beschäftigt, sondern sich auch um die gesamte DDR-Geschichte dieser Periode kümmert, bleibt es nicht aus, dass er das Thema Wirtschaftspolitik aufgreift und sich sehr ausführlich mit dem Phänomen Gorbatschow/Perestroika auseinandersetzt. Auch hier findet Decker nicht in jedem Fall meine Zustimmung, aber ich überlasse es jedem Leser selbst, hier eine Position zu finden. Diese Rezension soll ja nicht in einen politischen Diskurs ausarten. Eines aber möchte ich anmerken, den Satz „Wir sind das Volk“ und die Montagsdemos in Leipzig erwähnt Decker in keinem Satz. Und die sollten „Zwischen den Zeiten“ eigentlich nicht fehlen, denn sie sind ein Ausdruck freier Meinungsäußerung, die die DDR bis dato nicht kannte.
Zäsur in den Endjahren der DDR war eindeutig die Biermann-Ausbürgerung und der nachfolgende Exodus von DDR-Künstlern. Manche haben den Absprung geschafft, wie Manfred Krug, andere sind auf der Strecke geblieben, wie Jurek Becker. Die Geschichte jedes einzelnen ist es wert, ausführlich betrachtet zu werden.
Gunnar Decker fügt den DDR-Künstlerbiografien dann noch einige wichtige (?) sowjetische Künstlerbiografien hinzu. Ja, sie hatten Einfluss, aber nicht auf die Masse, die klappte beim Anblick von „Russenfilmen“ meist das Visier herunter. Bulgakows Buch „Der Meister und Margarita“ ist in der DDR ebenso wenig Allgemeingut geworden wie Abuladses Film „Die Reue“.
Wiederbegegnet bin ich im Buch Walter Janka, für mich war das Buch „Schwierigkeiten mit der Wahrheit“ tatsächlich, wie in der Kapitelüberschrift von Decker genannt: Das geistige Signal der Wende. Dieses kleine Buch hat mich damals umgehauen, damit war die DDR in meinem Kopf „gestorben“ – schon vor der Wende und der Wiedervereinigung, die zum Glück nicht mehr lange auf sich warten ließ.
Etwas verwundert war ich beim Lesen, dass Gunnar Decker nicht die Gunst der Stunde packte und in den Stasiarchiven nach Details der Beobachtung und Bespitzelung der DDR-Künstler suchte. Obwohl schon sehr ausführlich in seinen Beschreibungen, hätte er hier sicher noch die eine oder andere Anekdote beisteuern können. Aus meiner Sicht gab es kaum einen Künstler in der DDR (egal ob Schriftsteller, Maler, Bildhauer oder Regisseur…), der nicht ausgeforscht wurde. Dass auch einige selbst für die Staatssicherheit arbeiteten, versteht sich leider fast von selbst.
Trotzdem sollte man beim Lesen dieses Buches nicht vergessen: nicht jeder Künstler war ein Dissident oder gegen die DDR eingestellt, und nicht jeder war schlecht, nur weil er sich anpasste und mit dem Rücken an der Wand blieb. Die Kunst- und Kulturszene der DDR war ein weites Feld, Gunnar Decker hat versucht, es zu beackern. Wirklich eine immense Fleißarbeit!
Zum Schluss noch ein Blick auf Wolfgang Mattheuers „Jahrhundertschritt“, den Decker im Prolog sehr interessant beschreibt. Für mich ist dieses Kunstwerk seit vielen Jahren auch Ausdruck der Grenzen überschreitenden Kunst! Zuerst sah ich es auf der Kunstausstellung in Dresden 1987, dann sah ich es in der 1990ern jeden Tag vor dem Eingang meiner Arbeitsstätte gegenüber vom Berliner Zoo und seit in Potsdam das Barbarini-Museum eröffnet hat, begegnet der weit ausschreitende Mann mir immer wieder. Dass ich einen Abguss vor ein paar Tagen im Kunstmuseum Moritzburg in Halle am Eingang zur Dauerausstellung wiedertraf, freute mich immens. Mattheuer hat die Grenzen überschritten, ein Bein hier, ein Bein da, so gehört dem Jahrhundertschritt die Welt.
Leseempfehlung für diejenigen, die sich für DDR-Literatur und DDR-Geschichte interessieren.
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