Graham Swift, Waterland, 1983 (dt. Wasserland, dtv München 2011, 492 Seiten)
Worum geht es?
Tom Crick arbeitet seit einigen Jahrzehnten als Geschichtslehrer. Die Begeisterung für dieses Fach lässt zunehmend nach. Die Schüler interessieren sich mehr für Naturwissenschaften als für Geschichte. Der Rektor der Schule ist ein Physiker und hält dieses geisteswissenschaftliche Fach für ebenso unnütz wie ein Schüler namens Price, der infrage stellt, ob man sich überhaupt noch mit Geschichte beschäftigen soll. Crick, der nach Auffassung des Rektors in Frührente gehen sollte, möchte Price von der Bedeutung des Faches überzeugen, indem er ihm Geschichten erzählt, die sich vorrangig um seine Familie und um die Fenlands drehen, wo der historische Teil des Romans spielt.
Kritik
Dieser postmoderne Roman, in dem es um Geschichte und Geschichten, Fakt und Fiktionen, die untrennbar miteinander verbunden sind, geht, ist ein leidenschaftliches Plädoyer für das Fach Geschichte. Die Geschichte der Individuen, Tom Crick, seiner Frau Mary, seinem geistig behinderten Bruder Dick, ist ganz geschickt in die Geschichte der Fens eingebunden - und auch in den größeren Kontext der Bevölkerung dieser Landschaft und damit auch der politischen Geschichte.
Der Roman beginnt recht spannend mit einer Leiche, die von Toms Vater aus dem Wasser gezogen wird. Obwohl festgehalten wird, dass es sich um einen Unfall gehandelt haben soll, hat Tom die Wunden als Jugendlicher gesehen und macht sich daran, den Mord aufzuklären. Der Erzähler springt zwischen den Ereignissen des Jahres 1943 und der Familiengeschichte der Cricks und Atkinsons sowie der Weltgeschichte hin und her, und bindet in diese Exkurse zur den Fenlands oder zu Aalen ein, die eine besondere Bedeutung in dem Roman haben. So führt eine Geschichte zur nächsten und Swift zeigt auch sehr schön auf, wie einzelne Ereignisse Auswirkungen über Jahrzehnte haben können. Viel dreht sich um seine Beziehung zu seiner Ehefrau und Jugendliebe Mary. Es geht um Neugier, um Gestaltung von Zukunft, um die Rolle des Individuums, die Funktion von Erinnerung. Alles wichtige und bedeutende Themen.
Leseprobe vom Anfang
»Und vergiss nicht«, pflegte mein Vater zu sagen, als würde ich jeden Augenblick aufstehen und in die große weite Welt hinausziehen, um mein Glück zu suchen, »was immer du über die Menschen erfährst, wie schlecht sie auch sein mögen, jeder von ihnen hat ein Herz, und jeder hat als winziger Säugling einmal an der Mutterbrust getrunken.« Worte, Ratschläge wie aus einem Märchen. Aber wir lebten auch an einem Märchenort. In einem kleinen Schleusenwärterhaus, an einem Fluss, mitten in den Fens. Weitab von der großen Welt. Und mein Vater, der ein abergläubischer Mensch war, tat alles gerne so, dass es magisch und geheimnisvoll wirkte. Deshalb stellte er die Aalreusen immer bei Nacht auf.“
Fazit
Insgesamt muss ich aber sagen, dass mich der Roman so nach zweihundert Seiten irgendwie verloren hat, alles wurde immer verworrener, unzusammenhängender, auch theoretischer und die Spannung, die ich am Anfang noch empfunden habe, die Begeisterung für die ineinander verwobenen Geschichten ebbte ab. Mich hat die Geschichte um Mary einfach nicht gepackt, und Geschichte lebt einfach auch vom guten Geschichtenerzählen und das wurde für mich im Verlauf des Romans immer weniger, je experimenteller der Autor wurde. Die Erzählung wirkte irgendwie zerrissen und zusammengepflückt. Schade.