Man stelle sich einen Regisseur vor, der zu faul ist, einen richtigen Film zu drehen. Es ist ihm lästig, eine Geschichte zu entwickeln, ein Drehbuch zu schreiben (oder schreiben zu lassen) und Darsteller auszuwählen. Mit der Gestaltung von Kostümen und Sets möchte er sich auf keinen Fall befassen. Auch die Mühen der Dreharbeiten sind ihm zuwider. Stattdessen wählt er hundert Filme aus, nimmt aus jedem dieser Filme eine einminütige Sequenz und fügt diese Schnipsel ohne erkennbares Prinzip zusammen. Schließlich tritt er vor das Publikum und behauptet dreist, er habe einen neuen Film gedreht.
Ganz ähnlich ist Florian Illies bei seinem neuesten Buch vorgegangen. Ein richtiges Buch zu schreiben, das ist leider mit allerlei Mühsal und Plackerei verbunden. Man muß sich den Kopf darüber zerbrechen, was für eine Geschichte man eigentlich erzählen will. Man muß, wenn das Buch historische Sachverhalte behandelt, das zur Verfügung stehende Material in einen sinnvollen und aussagekräftigen Zusammenhang bringen, damit etwas entsteht, das den Namen Geschichte (im Sinne einer in sich geschlossenen Erzählung) verdient. Das Material fügt sich nämlich nicht von selbst zu einem solchen Zusammenhang. Dazu bedarf es einer Fragestellung, einer Idee. Und man muß darüber nachdenken, welche Dinge das Publikum besser verstehen soll, wenn es das Buch gelesen hat.
Vor all diesen Fragen und Aufgaben hat sich Illies gedrückt. Stattdessen hat er sich entschieden, eine Gruppe von mehrheitlich deutschen Künstlern und Literaten Monat für Monat durch das Jahr 1913 zu begleiten, nicht als Erzähler, sondern als Chronist, der einfach das referiert, was die reichhaltige Sekundärliteratur hergibt. Illies strebt kein Gesamtpanorama der deutschen Vorkriegsgesellschaft an. Er konzentriert sich auf die Welt der Hochkultur und deren Randbereich, die künstlerische Bohème. Warum ausgerechnet 1913? Warum Kafka, Rilke und Benn, warum wieder einmal die üblichen Verdächtigen (Politiker, Wissenschaftler und Normalsterbliche kommen auch vor, aber nur in Nebenrollen)? Ein Vorwort oder eine Einleitung, die Auskunft über Sinn und Zweck des Buches geben könnten, sucht der Leser vergebens. Er sieht sich konfrontiert mit einer in Monatsabschnitte gegliederten Abfolge mehr oder minder umfangreicher Anekdoten und Momentaufnahmen, die in einigen Fällen durchaus interessant, mehrheitlich aber läppisch sind.
Wen interessieren heute noch die Peinlichkeiten des Liebeslebens von Franz Kafka und Oskar Kokoschka? Wer interessiert sich für die allzu menschlichen - also banalen - Eheprobleme Albert Einsteins, Arthur Schnitzlers und Robert Musils? Wer außer ein paar Germanisten und Gottfried-Benn-Enthusiasten kann heute noch etwas mit dem Namen Lou Andreas-Salomé anfangen? Ist diese Frau - ähnlich wie zahlreiche andere Figuren, denen Illies zu Leibe rückt - nicht zu Recht in Vergessenheit geraten? Müssen Freaks wie Egon Schiele und Georg Trakl dem heutigen Publikum unbedingt wieder in Erinnerung gerufen werden? War es wirklich eine kulturelle Blüte und bewundernswerte Vielfalt, die sich da in Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkrieges entfaltete, oder stehen Künstler und Literaten wie Schiele, Kafka und Oswald Spengler nicht für einen Zustand nervöser Überreizung und intellektueller Verirrung, dem nachzutrauern überhaupt kein Grund besteht?
Solche Fragen wirft Illies gar nicht erst auf. Kommentare, kritische Bewertungen, abwägende Urteile sind seine Sache nicht. Viel einfacher und bequemer ist es doch, zum hunderttausendsten Mal die Säulenheiligen der klassischen Moderne zu feiern, seien sie Schriftsteller, Maler oder Komponisten: Picasso war genial, Benn war genial, Trakl war genial, Kafka war genial, genauso wie Malewitsch und Duchamp und all die anderen. Alle waren sie irgendwie genial, und sei es auf verkrachte Art und Weise. So wird es uns seit Jahrzehnten eingebläut. Expressionismus, Kubismus, Suprematismus - alles Meilensteine der Kunstgeschichte. Ist es nicht an der Zeit, die klassische Moderne einmal kritisch zu hinterfragen und ihren Wert neu einzuschätzen? Mehrfach schildert Illies, wie aufgebracht und ablehnend das musik- und kunstliebende Publikum des Jahres 1913 auf die Gemälde der Expressionisten oder Stravinskys "Sacre du printemps" reagierte. Doch warum reagierte das Publikum so? Warum wollte es sich nicht mit expressionistischer Kunst anfreunden? Was bevorzugte dieses Publikum in puncto Literatur, Musik und Kunst? Lasen die Deutschen im späten Kaiserreich nicht eher Karl May und Hedwig Courths-Mahler als Rilke und Schnitzler? Wer etwas über die Mentalitäten des Jahres 1913 und den Geschmack des Mehrheitspublikums erfahren will, der wird bei Illies nicht fündig. Illies betrachtet das Jahr 1913 mit den Augen des Jahres 2012. Und deshalb nimmt er nur das wahr, was das Jahr 2012 am Jahr 1913 für wichtig und erinnernswert hält: Eben die üblichen Verdächtigen. Wie reizvoll und lohnend wäre es, das kulturelle Leben des Jahres 1913 zu schildern, ohne daß darin die sattsam bekannten Figuren auftauchen, die eine beflissene akademische Literatur-, Kunst- und Musikgeschichte seit Generationen gebetsmühlenartig als "Wegbereiter der Moderne" preist!
Ärgerlich an Illies' Buch ist der Mangel an Kontextualisierung. Zusammenhänge aufzuzeigen und Hintergründe auszuleuchten, auch davon hält Illies nichts. Er reiht ununterbrochen Anekdoten und Geschichtchen aneinander, die einzuordnen und zu bewerten dem Leser schwer fällt, weil in der Regel die Vorgeschichte fehlt. Schon das Januar-Kapitel bietet Beispiele zuhauf für den Unwillen des Autors, auch nur ein Minimum an Hintergrundinformationen zu vermitteln: Thomas Manns Theaterstück "Fiorenza" wird von dem Kritiker Alfred Kerr verissen. Worum geht es in dem Stück überhaupt? War Kerrs Verriß gerechtfertigt oder nicht? Rainer Maria Rilke flieht vor einer "Schaffenskrise" nach Südspanien. Was hat es mit dieser Schaffenskrise auf sich? Als "Urgefühl" des Kulturpessimisten Oswald Spengler wird "Angst" angegeben. Woher rührte diese Angst, durch welche biographischen Erlebnisse und Erfahrungen wurde sie ausgelöst? Sigmund Freud und sein Schüler C.G. Jung zerstreiten sich. Das Zerwürfnis wird in einigen folgenden Kapiteln nochmals erwähnt; seine Ursachen werden aber nirgends erläutert. Über Gertrude Stein, die in Paris einen Salon führte, wird berichtet, sie habe sich im Januar 1913 mit ihrem Bruder entzweit. Warum? Was war passiert? Das tut aus Illies' Sicht offenbar nichts zur Sache. Wozu dann diese Nebensächlichkeit überhaupt erwähnen?
Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Dem Leser bleibt vorenthalten, warum Arthur Schnitzlers Drama "Professor Bernhardi" mit einem Aufführungsverbot belegt wurde. Wer noch nie etwas von Georg Trakl gehört hat, wird nicht verstehen, warum der Dichter "wie in Trance" durch die Welt irrte (S. 84). Auf S. 94 wird mitgeteilt, daß Karl Kraus am 29. März 1913 in München einen Vortrag hielt, der mit freundlichem Applaus aufgenommen wurde. Das Thema des Vortrages? Man erfährt es nicht, genauso wenig wie den Titel des Films, der Kafka laut Tagebuch am 20. November zu Tränen rührte (S. 285). Aus dem Zusammenhang gerissen werden auch ein Brief-Zitat, in dem sich Hugo von Hofmannsthal desillusioniert über den österreichischen Adel äußert (S. 210) und das schroffe Verdikt des Malers Max Beckmann, der Mensch sei "ein Schwein erster Klasse" (S. 152). Was beide Männer zu diesen Äußerungen veranlaßte - wer weiß das schon? Man hofft, daß wenigstens Illies es weiß. Doch anstatt es den Lesern zu verraten, doziert er lieber im Tonfall des umfassend gebildeten Vielwissers, Ludwig Wittgensteins "Tractatus logico-philosophicus" sei eine der wichtigsten Schriften des 20. Jahrhunderts (S. 81). Wichtig für wen? Und wovon handelt der Traktat? Pompös heißt es über Edmund Husserl, sein "großer Paradigmenwechsel für die Philosophie" habe in der "Abwendung von den positivistischen Realien der Umwelt zu den Tatsachen des Bewußtseins" bestanden (S. 160). Wer Genaueres darüber erfahren möchte, kann gerne bei Wikipedia nachschauen.
So geht es Seite für Seite, Kapitel für Kapitel. Das Buch bietet kaum mehr als eine ziellos dahinplätschernde Nummernrevue. Emsig gesammelte Lesefrüchte werden wie Mosaiksteinchen ausgeschüttet, doch weil eine sinnstiftende Idee fehlt, entsteht letzten Endes kein Bild, das dem Leser ein vertieftes Verständnis der deutschen Gesellschaft oder des deutschen Kulturlebens im letzten Friedensjahr vor dem Ersten Weltkrieg ermöglicht. Stattdessen bietet Illies eine langweilige und ermüdende Aneinanderreihung von Anekdoten über die Liebeshändel und Ehewirren, die soziale Inkompetenz, Hypochondrie und "Neurasthenie" seiner männlichen und weiblichen Protagonisten, garniert mit banalen Kurzmitteilungen wie "Rainer Maria Rilke hat Schnupfen" (S. 85). Drei Seiten vorher wirft Illies seinen Lesern diesen Informationsbrocken hin: "Frühlings Erwachen. Am 8. März treffen sich im Wiener Café Imperial Frank Wedekind, Adolf Loos, Franz Werfel und Karl Kraus nach dem Aufstehen auf einen großen Braunen." Muß man das wirklich wissen, und wenn ja, wozu? Die Passagen über die eigenartige Beziehung zwischen Franz Kafka und Felice Bauer bieten eine pein- und qualvolle Lektüre. Hat sich im Jahr 1913 nichts Wichtigeres zugetragen? Über dieses Thema sollte man besser den Mantel des Schweigens breiten. Gottlob behandelt Illies nur ein Jahr dieser Beziehung; mehr wäre kaum zu ertragen.
Für jeden historisch interessierten Leser ist dieses Buch eine Zumutung, und für den Fischer-Verlag ist es ein Armutszeugnis. Mit seiner Mischung aus Oberflächlichkeit, Schaumschlägerei und bildungsbürgerlichem Renommiergehabe paßt das Buch zu unserer heutigen Zeit: Es vermittelt Wissen in mundgerechten Häppchen, die niemanden überfordern; es kommt anekdotisch daher, im zwangslosen Plauderton, mit sicherem Gespür für das Pikante, Frivole und leicht Anrüchige. Ist es nicht genau das, was deutsche Leser lesen wollen? So denken offenbar manche Autoren und Lektoren. Die Tatsache, daß Illies' Buch so enthusiastische Rezensionen erhalten hat und zum Beststeller avancierte, zeigt nur, daß den Feuilletonisten und vielen Lesern die Maßstäbe abhanden gekommen sind, um schlechte Bücher von guten zu unterscheiden. Ein Buch wie "1913" entsteht, wenn ein Autor nichts riskiert, brav mit dem Strom schwimmt und sich an etablierte Lehrmeinungen hält. Über das deutsche Kulturleben unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg könnte man auch ganz andere Geschichten erzählen. Das setzt allerdings die Bereitschaft voraus, ausgetretene Pfade zu verlassen, Neuentdeckungen zu wagen und den Kanon vermeintlich bahnbrechender und epochemachender literarischer und künstlerischer Werke in Frage zu stellen. Was Illies bietet, ist Kulturgeschichte für Dummies - Menschen, die nicht mitdenken, die keinen eigenen Kopf und keine eigene Meinung haben.
(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im Juni 2013 bei Amazon gepostet)