Hüseyn hat sich ein Leben lang in Deutschland abgerackert - einem Land, in dem er sich nie willkommen, nie angenommen gefühlt hat. Als er endlich genug Geld zusammen hat, um sich und seiner Familie eine Wohnung in Istanbul zu kaufen, stirbt er in dieser Wohnung plötzlich an einem Herzinfarkt, noch bevor seine Familie ankommen und all seine Träume und Hoffnungen auf ein besseres Leben sich erfüllen können.
Das ist die Einleitung einer Geschichte, in der es um so viel mehr geht als um einen Einwanderer und seine Hoffnungen. Nach Hüseyns Tod werden aus den Sichtweisen seiner Familienangehörigen ganz andere Geschichten erzählt. Nämlich die, von Familienkonflikten, kulturellen Differenzen, der Frage von Heimat und Zugehörigkeit, von Liebe und Identität, von Akzeptanz und der ewigen Suche nach sich selbst. Hüseyns Kinder - Ümit, Peri, Sevda und Hakan - haben ihre ganz eigenen Hintergründe und ihre Päckchen zu tragen, über die sie sich zum Teil frappierend bewusst sind. Sie gehen ganz unterschiedlich mit Gefühlen um, sind unterschiedlich reflektiert, unterschiedlich reif. Aber sie alle gehen einem auf ihre unterschiedliche Art unfassbar nah. Der Autorin gelingt es, jeden der Charaktere authentisch werden zu lassen und gibt ihnen eine Tiefe, wie ich sie noch nirgends sonst gelesen habe. Was den mentalen Horizont betrifft, waren mir manche (Peri) sympathischer als andere (Hakan), aber dennoch habe ich bei jedem das Gefühl gehabt, ich wäre ein Teil von ihm, in ihm drin, würde die physische und emotionale Reise mit ihm zusammen machen. Sogar Hakan, der ein paar Wesenszüge hat, mit denen ich mich nicht unbedingt identifizieren möchte, war mir so vertraut, dass ich das Gefühl hatte, jeden seiner Gedanken zu verstehen, egal wie befremdlich er gleichzeitig war.
Dschinns hat mir zunächst keinen leichten Einstieg beschert. Ich fühlte mich in dem Buch fremd, so fremd, wie Hüseyn sich Jahrzehnte lang in Deutschland gefühlt hat. Ihm habe ich mich nicht nah gefühlt, genauso wenig wie seiner Frau Emine, die die Geschichte zwar wohlgeformt abschließt, mir aber so fremd bleibt, wie die Angst, nachts in einer brennenden Wohnung aufzuwachen. Emine, die ich nicht fassen, nicht identifizieren kann. Am Ende fühlt sich aber genau das gewollt und irgendwie richtig an. Während die Kinder der beiden einen nahezu tobenden Kampf zwischen den kulturellen und elterlichen Erwartungen und ihren eigenen Bedürfnissen erleben, findet der innere Kampf von Hüseyn und Emine auf einer anderen Ebene statt. Ihre Ansichten und Gewohnheiten sind tiefer verwurzelt, gleichzeitig ist die Verantwortung die sie tragen größer und die Erfahrungen, die sie in ihren Köpfen und Herzen herumtragen, sind noch traumatischer.
Dschinns ist ein Buch voller großer Gedanken und Gefühle, welches die komplexe Beziehung zwischen Geschwistern und von Eltern und ihren Kindern so gefühlvoll und doch präzise in den Raum stellt. Dem übergeordnet gibt es außerdem einen Handlungsstrang, der mich überrascht und ergriffen hat. Die Autorin hat diesen so geduldig und mit viel Fingerspitzengefühl vorbereitet, dass ich die Entwicklung nicht erwartet und nicht kommen gesehen habe. Für mich war das ein wunderbares Erlebnis, da mir viele Plots schnell zu offensichtlich sind. Sie hat mit so vielen kleinen Anspielungen und Kniffen gearbeitet, an die ich später zurückdenken musste. „DAS hat er also gemeint, als er am Anfang sagte…“
Das EInzige, was ich in dem wunderbaren und runden Roman ein wenig unsauber fand, war die doch recht eindimensionale und graue Darstellung der Kinder von Sevda. Es geht zwar nicht vorrangig um diese, aber Kinder in dem Alter sind nicht unsichtbar, wirken in dem Buch aber ein wenig so. Das hat für mich etwas an der Authentizität, die mich ansonsten so begeistert hat, gerüttelt. Ich hätte es schön gefunden, wenn auch ihnen ein klein wenig mehr Leben eingehaucht worden wäre.
Ich war mir zwischendrin noch nicht sicher, ob das Buch wirklich 5 Sterne verdienen würde, aber das Ende (die Erzählform, die aus Gründen wieder zur ersten wechselt, der Bezug zur Wahrsagerin, Peri‘s Ciwan, Sevdas Restaurantgast, der Bezug zu tatsächlichen Ereignissen während dieser Zeit) hat das ganze Werk so wunderbar abgerundet, dass es die 5 Sterne mehr als verdient hat. Für mich in Form und Inhalt ein Kunstwerk.