Rezension zu "Nach einer wahren Geschichte" von Delphine de Vigan
Was ist wahr, was ist erfunden? Wow! Selten so ein cleveres und verstörendes Vexierspiel mit Fiktion und Wahrheit gelesen. Ich würde dieses Buch als literarischen Psychothriller bezeichnen, einmal da es um Literatur und den Prozess des Literaturschaffens geht und zum anderen, weil er so gut und elegant geschrieben ist.
Doch erst einmal: Worum geht es in diesem Roman, der lange auf den französischen Bestsellerlisten stand?
„Ich möchte erzählen, wie und unter welchen Umständen L. in mein Leben trat, ich möchte den Kontext genau beschreiben, der es L. ermöglichte, in meine Privatsphäre einzudringen und sie mit Geduld zu annektieren.“ (p.1).
Die Autorin Delphine, aus deren Perspektive die Ereignisse in Retrospektive erzählt werden, hat einen Roman mit dem Titel „Das Lächeln meiner Mutter“ verfasst, der zu einem Bestseller wurde. Die Leserschaft ist begeistert und sie erhält zahlreiche Anfragen, wieviel Autobiographisches in diesem Roman stecke. Delphine ist eine eher zurückhaltende und schüchterne Person, die sich linkisch und dem Ansturm nicht gewachsen fühlt. Als sie dann auch noch bitterböse Drohbriefe erhält, droht sie zu zerbrechen. In diesem Moment begegnet sie L. Sie ist Ghostwriterin und scheint das genaue Gegenteil, selbstbewusst und attraktiv, redegewandt, forsch und selbstsicher im Auftreten. Die beiden Frauen freunden sich an, verbringen immer mehr Zeit miteinander. L. zieht für eine Zeit bei Delphine ein.
Ich kann nicht wirklich einen Punkt ausmachen, an dem die Situation komisch wurde, an dem sich die Beziehung zwischen den beiden Frauen so entwickelte, dass von L. etwas Bedrohliches auszugehen schien. Wie im wahren Leben entwickelt sich so etwas schleichend. Was ich jedoch deutlich sagen kann, ist, dass dieser Punkt bei mir deutlich eher erreicht war als bei der Ich-Erzählerin. Wer ist diese seltsame Frau, deren Namen wir nicht erfahren (im Französischen klingt „L“ wie das Wort ‚elle‘ „Sie“), die sich in ihr Leben drängt, die eine unglaubliche Präsenz einnimmt und was sind ihre Ziele? An irgendeinem Punkt habe ich mich auch einmal gefragt, ob sie wirklich existiert und bin in Gedanken alle Situationen noch einmal durchgegangen, in denen andere Menschen zugegen waren. Stimmt vielleicht etwas mit Delphine nicht?
„Noch heute fällt es mir schwer zu erklären, wie sich unsere Beziehung so schnell entwickeln und wie L. binnen weniger Monate einen solchen Platz in meinem Leben einnehmen konnte. L. übte eine echte Faszination aus. L. erstaunte mich, amüsierte mich, machte mich neugierig. Schüchterte mich ein.“
Delphine leidet unter einer Schreibblockade, unter Selbstzweifeln und Depressionen. L. gibt vor, ihr aus dieser ausweglosen Situation helfen zu wollen. Delphine hat allerlei Ideen für einen neuen Roman, doch möchten die Leser überhaupt noch etwas „Erfundenes“ lesen? Macht es nicht den besonderen Reiz aus, wenn das, was Leser mit den Charakteren in dem Buch erleben, irgendwie wahr ist? Auch diese Frage stellt die Erzählerin und fügt damit eine weitere Ebene hinzu.
Fragen über Fragen. Kurzgesagt, dies ist ein sehr, sehr clever erzählter Psychothriller, der den Leser mehr als einmal an allem zweifeln lässt, was er bis zu diesem Zeitpunkt für wahr gehalten hat. Das letzte Viertel des Romans wird dann richtig spannend.
Nicht zu vergessen, dass die Autorin de Vigan ebenfalls ein Buch mit dem Titel „Das Lächeln meiner Mutter“ veröffentlicht hat – ebenso wie die Erzählerin des vorliegenden Romans.
Für wen ist dieser Roman etwas? Es ist ein intelligenter und zugleich verspielter Roman. Man achtet auf jede Aussage von Delphine, und gerade die feinen Nuancen sind es, die eine große Rolle spielen. Man muss aber bereit sein, sich auf eine sehr langsame Erzählung einzulassen, denn die Veränderung in der Beziehung zwischen den beiden kommt stetig und schleichend, die Situation wird immer beklemmender und bedrohlicher, ohne dass über einen langen Zeitraum eigentlich eine tatsächliche Bedrohung vorliegt. L. wird einfach irgendwie zu einer unangenehmen Präsenz. Erst im letzten Viertel des Romans wird es wirklich spannend. Es ist also auch ein etwas intellektueller Roman, der von ungeduldigen Lesern als langatmig empfunden werden könnte.
Wer einen guten temporeichen Psychothriller lesen möchte, der ebenfalls eine ähnliche Freundschaft zwischen zwei Frauen behandelt, in der eine der beiden sich in das Leben der anderen hineindrängt, und der etwas schneller voranschreitet und mit mehr Action aufwartet, dem sei eher etwas wie „Schlaf nicht wenn es dunkel wird“ von Joy Fielding empfohlen.
Der Roman wurde von Polanski auch verfilmt. Ich bin von dem Film (trotz Eva Greenes überzeugender schauspielerischer Leistung) im Gegensatz zum Roman aber nicht wirklich begeistert.