Rezension zu "Unorthodox" von Deborah Feldman
Wenn ich eine unangenehme Aufgabe zu bewältigen habe, wozu zum Beispiel das Streichen eines Zimmers mit geleimter Wandfarbe unter erschwerten Bedingungen wie bröckelnder Putz gehört, male ich mir immer aus, dass es noch viel schlimmer sein könnte. Ich könnte zu dieser Arbeit gezwungen und überwacht werden, die Raumtemperatur könnte im Minusbereich liegen, die Farbe würde gefrieren und ich mit ihr ...
Auch bei den Einschränkungen durch Corona bin ich so verfahren, habe mir eine Bestimmung zum Tragen eines Schutzanzugs ausgemalt oder eine Impfpflicht.
Indem ich gedanklich die Grenzen sehr eng schraube, weitet sich sich mein Bewusstsein, um den Reichtum dieser Welt dankbar wahrnehmen zu können.
Hätte Deborah Feldman ihre Unschuld beim heimlichen Lesen des Talmuds verloren, wenn ihr jede Lektüre erlaubt gewesen wäre? Sie entdeckt im Talmud die Fehlbarkeit König Davids, was sie zum Hinterfragen bringt.
Beim Lesen von "Die Erwählten" hält sie dagegen an ihrer Unschuld fest, lehnt die zionistische und abtrünnige Haltung des assimilierten Juden Reuven ab.
"Es ist eben diese Unschuld, die mir Zeidi eifrig einflößte ... und die ich schließlich beinahe vollständig abgelegt habe, abgesehen von ihren wirklich grundlegenden Wurzeln im Herzen meines Wesens. Jahre später, als ich mit offenen Augen auf die Welt blickte, hatte ich mir diese Unschuld in meinem Herzen noch immer bewahrt."
Ich nenne das nicht Unschuld, sondern Urvertrauen, lieber noch Gottvertrauen. Deborah Feldmann gefällt vielleicht der Begriff Selbstvertrauen besser.
Zeidi ist ihr Großvater, Bubby die Großmutter, Überlebende des Holocaust, die sich der chassidischen Satmar-Gemeinde in Williamsburg, New York, angeschlossen haben, um einer Wiederholung ihrer Vergangenheit zu entgehen. Bei ihnen wächst Deborah auf und in die strengen Regeln der Satmarer hinein.
Auf den rasierten Schädeln der Frauen dürfen nur noch Kunsthaarperücken oder gar Shpitzel, ein Turban, getragen werden. Weder Männer noch Frauen werden aufgeklärt, Deborah Feldman wusste nicht einmal um die Existens ihrer Vagina vor den Hochzeitsvorbereitungen. Um die Reinheit und Unreinheit der Mädchen und Frauen wird solch ein Theater gemacht, dass sich die Muskulatur beim Sex verschließt, so dass eine Penetration unmöglich wird.
Die Überlebenden des Holocaust haben sich von der Opferrolle befreit, indem sie sich nicht mehr von anderen quälen lassen, sondern sich selbst kasteien. Ich tue das in meiner Phantasie. Die Wirkung ist in beiden Fällen dieselbe. Wir wechseln auf die Metaebene zum Beobachter-Ich, wo wir nicht mehr Opfer sind, sondern den nötigen Abstand finden, um Freiheit zu gewinnen. Nur wo Grenzen sind, können sie gesprengt werden. Umso enger sie sind, umso größer die Sprengkraft.
Deborah Feldmann kennt sich in der Metaebene hervorragend aus. Als Beobachterin beschreibt sie das Leben in der Gemeinde, ohne es zu bewerten. Aus der Rückblende wird aus scheinbaren Defiziten in der Kindheit und Jugend ein göttlicher Plan, der sie zu einer selbstständigen, erfolgreichen, achtsamen, weitblickenden Frau, Mutter und Schriftstellerin werden ließ. Wie vollkommen ist diese Welt!
Besonders gefallen hat mir, dass die Autorin auch bei ihrem Ausstieg aus der Gemeinde Beobachterin blieb und sich nicht Schlammschlachten bei der Scheidung der Zwangsehe und dem Kampf um das Sorgerecht ihres Sohnes hingab.
"Ich habe mich von meiner Vergangenheit befreit, aber ich habe sie nicht losgelassen. Ich schätze diese Augenblicke und Erfahrungen, die mich geformt haben. Ich habe meine Geschichte gelebt ... Es gibt Tage, an denen ich platzen möchte vor Dankbarkeit, so weit gekommen zu sein, weiter, als ich es je zu hoffen wagte."
Diese letzten Sätze des Buches "Unorthodox" kann ich nur noch unterschreiben und Deborah Feldman von Herzen danken, dass sie ihre Geschichte aufgeschrieben und der Öffentlichkeit preisgegeben hat. Ich wünsche ihr alles Gute für ihre Zukunft und für die ihres Sohnes.
Vera Seidl