Rezension zu "Underground Railroad" von Colson Whitehead
Colson Whitehead, der für seinen Sklaverei-Roman den Pulitzer-Preis und den National Book Award erhielt, weiß als Afroamerikaner aus eigener Erfahrung: „Wenn man über den Rassismus der Vergangenheit schreibt, schreibt man auch über den Rassismus der Gegenwart“. Sein nun auch als Taschenbuch vorliegendes Meisterwerk erfährt nach dem rassistischen Mord an George Floyd und den schwersten Unruhen in den USA seit dem Attentat auf Martin Luther King am 4. April 1968 eine bedrückende Aktuälität. Für den Professor und Filmemacher Jamal Joseph, Veteran der Black Panther Bewegung, ist der Rassismus der amerikanischen Polizei „das Erbe der Sklaverei. Damals wurde gelehrt, dass wir Afroamerikaner keine vollwertige Menschen seien, und die Polizei übernahm es, die Sklaven zu kontrollieren und Entlaufene wieder einzufangen.“
Entlaufene wie das Mädchen Cora. Der auch für seinen siebten Roman „Nickel Boys“ mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Colson Whitehead hat Cora zur Hauptfigur bestimmt, weil er „den spezifischen Horror weiblicher Sklaverei“ anprangern wollte. Junge Frauen waren auf den Plantagen der Südstaaten im 19. Jahrhundert nicht nur Arbeitssklavinnen auf den Baumwollfeldern. Sie wurden auch als Sex-Sklavinnen missbraucht. Neben der persönlichen Macht- und Lustbefriedigung ging es den Plantagenbesitzern und ihren Aufsehern vor allem darum, noch mehr Sklaven zu produzieren, die noch mehr Baumwolle pflücken konnten, um ihre Herren noch reicher zu machen.
Auch Cora wird als Teenager auf der Randall-Plantage in Georgia mehrfach vergewaltigt. Schon ihre Großmutter Ajarry starb „in der Baumwolle“. Ihrer Mutter Mabel war als einer der ganz wenigen Sklaven die Flucht gelungen – ohne ihre kleine Tochter. Da Cora in der Sklaverei geboren wurde, kennt sie nichts anderes als die ständige Gewalt der weißen Peiniger: „Sie hatte gesehen, wie man Männer an Bäumen aufhängte und den Geiern und Krähen überließ. Wie man Frauen mit der neunschwänzigen Katze bis auf die Knochen aufschlitzte.“
Spezifischer Horror weiblicher Sklaverei
Coras Selbstvorwurf: Sie hatte „alles gesehen und nichts unternommen.“ Doch als der sadistische Plantagen- und Sklavenbesitzer Terrance Randall einen Jungen aus lächerlichem Anlaß verprügelt, beugt sie sich, „ehe die Sklavin in ihr den Menschen in ihr einholte“, als Schild über Chesters Körper, wird selbst blutig geschlagen und danach ausgepeitscht. Es ist auch die Geschichte des jungen, cleveren Caesar, der Cora bei der hochriskanten Flucht und Odyssee durch die unterschiedlichen Auswüchse und Staaten der Sklaverei unerschrocken zur Seite steht. Mit dessen Hilfe gelangt Cora durch die unterirdischen Stollen der Underground Railroad in den Bundesstaat North Carolina, wo es „die schwarze Rasse nur an den Enden von Stricken“ gibt.
Das Ehepaar Ethel und Martin nimmt Cora bei sich auf und versteckt sie auf ihrem Dachboden. Von dort aus kann sie durch ein Guckloch auf den benachbarten Park blicken. Jeden Freitag abend feiern die Einwohner dort „Volksfeste“, bei denen die menschliche Beute der sogenannten Nachtreiter, angeheuerte Sklavenfänger, öffentlich verhöhnt und unter dem Gejohle der Menge an einem Baum aufgehängt wird.
Colson Whitehead wollte keinen historischen Roman schreiben. Sein Leitmotiv: „Halte Dich nicht an Tatsachen, sondern an die Wahrheit.“ Er hat sich nicht an die Tatsache gehalten, dass die Underground Railroad im physischen Sinne gar nicht existierte. Es gab keine Untergrundbahn, die die Sklaven aus dem versklavten Süden in den befreiten Norden brachte, keine unterirdischen Bahnhöfe, keine Eisenbahnzüge und keine echten Stationsvorsteher. Whitehead erfand sie und machte sie real.
Was aber war die Underground Railroad dann? Die Journalistin Julia Schröder erläutert in ihrem Vorwort den historischen Hintergrund. Sie beschreibt die Organisation als ein „geheimes Netzwerk von Fluchtrouten, Treffpunkten, sicheren Unterschlupfen und Unterstützung aus unterschiedlichsten Bevölkerungsteilen, das den Sklaven zur Flucht verhilft und sie durchs ganze Land vom Süden in den Norden schleust.“ Doch den Eisenbahn-Geheimcode gab es tatsächlich: Die Zugführer (Pilots) und Schaffner (conductors) geleiteten die Passagiere, die Entflohenen, zum nächsten Bahnhof, die Bahnhofsvorsteher (station master) beherbergten sie in ihrem Haus und die Agenten wagten sich vor bis in die Plantagen-Höllen, um mit den Sklaven die Flucht zu organisieren.
Eine dieser tapferen Agentinnen war Harriet Tubman, um 1822 auf einer Plantage in Maryland geborene Sklaventochter, die in die Freiheit entfliehen konnte und ihr ganzes Leben der Aufgabe widmete, Sklaven zur Flucht zu verhelfen. Noch unter US-Präsident Barack Obama beschloss die Regierung, das Porträt Harriet Tubmans ab 2020 auf den 20-Dollar-Schein zu drucken. Doch Nachfolger Donald „Make America white again“ Trump weigert sich, das Konterfei des siebten US-Präsidenten Andrew Jackson (1829 – 1837), ein fanatischer Sklavenhalter und Indianerausrotter, durch das Gedenken an die Sklavenretterin mit dem Ehrentitel „Moses“ zu ersetzen. Das damals entstandene Lied „Go down Moses“ zeigte an, dass die Luft rein ist.
Bis zur Niederlage der Sezessionisten im Amerikanischen Bürgerkrieg im Jahr 1865 gab es etwa vier Millionen Sklaven. Auch wenn die Zahl der unmittelbar durch das Netzwerk der Underground Railroad geretteten Sklaven relativ gering war: Das legendäre „Network to Freedom“ hat sich unauslöschlich in das amerikanische Bewusstsein eingeprägt. Colson Whiteheads Buch wirft nicht nur Licht auf eines der dunkelsten Kapitel der Menschheit. Sein in nüchterner Sprache erzählter, in seinen Martyriums-Szenen kaum auszuhaltender und doch unwiderstehlicher, zutiefst menschlicher Roman über das andere (wahre?) Gesicht Amerikas reicht bis in die Gegenwart hinein. Eine Gegenwart, in der struktureller Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, soziale Ungleichheit und gesellschaftliche Spaltung in den USA, aber auch in Europa wieder salonfähig zu werden drohen.
Joseph Weisbrod
Info: Colson Whitehead: „Underground Railroad“. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Fischer Taschenbuch. 352 Seiten. 12 Euro.