„Vox“ beginnt als Dystopie der besonders verstörenden Art: Nach der Machtübernahme der christlichen Fundamentalisten, die sich „Die Reinen“ nennen, werden die Rechte der Frauen plötzlich massiv eingeschränkt: Sie dürfen nicht mehr arbeiten, dürfen nicht mehr wählen und benötigen das Einverständnis ihres nächsten männlichen Angehörigen, Ehemann oder Vaters. Zudem werden Frauen mit einem Wortzähler ausgestattet, der ihnen maximal 100 Worte pro Tag erlaubt. So werden Frauen in diesem dystopischen Amerika des 21. Jahrhunderts praktisch mundtot gemacht. Mädchen wird die Bildung verwehrt, außer der Fächer, die sie für die Haushaltsführung brauchen können. So werden Frauen zu angepassten, stummen und willenlosen Hausmütterchen, die sich nicht am Weltgeschehen beteiligen und immer mehr verstummen. Die Protagonistin Jean war einst Wissenschaftlerin und Neuro-Linguistin, führend auf ihrem Gebiet, bevor sie zum Schweigen verdammt wurde. Nun ist die Mutter von vier Kindern zu Hause und verbrennt innerlich beinahe vor Wut auf die ihr und allen anderen Frauen angetane Ungerechtigkeit. Ihr Ehemann, ein enger Berater des Präsidenten, scheint ihr sehr entfremdet zu sein. Eines Tages klopfen jedoch hochrangige Regierungsbeamte an ihre Tür, die ihre Expertise benötigen. Das ist Jeans Chance zu kämpfen, für ihre Freiheit, ihre Kinder und alle unterdrückten Frauen.
Der Roman beginnt vielversprechend mit einem spannenden Szenario und einem beklemmenden, intensiven Thema. Wie „Der Report der Magd“ befinden wir uns in einem, von christlichen Fundamentalisten neu gegründeten Staat, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, systematisch und konsequent Frauen zu unterdrücken. Bereits in den ersten paar Seiten ist man voll im Thema drinnen und bekommt den Alltag der mit Wortzählern ausgestatteten Frauen und Mädchen mit. Gleichzeitig wird die Gesellschaft, in der wir uns nun befinden, eingeführt und mittels erster Rückblenden wird angedeutet, wie es soweit kommen konnte. Hätte die Autorin sich auf diesen Plot konzentriert und ihn auch besser und detailliert ausgearbeitet, wäre es wohl in meinen Augen ein richtig gutes Buch geworden.
Aber Christina Dalcher hat noch mehr gewollt. Und so schwenkt der Inhalt nach dem Hilferuf des Präsidenten in eine andere Richtung und entwickelt sich zu eine Politthriller mit einer strahlenden Heldin, einer vor Klischees triefenden Liebesgeschichte und gut eingestreuten wissenschaftlichen Ausführungen (Christina Dalcher selbst ist Linguistin), die der Geschichte dann etwas mehr Gehalt verleihen sollen. Leider ist da für mich viel zu viel gewollt worden. Nach einem langsamen Auftakt, der die Protagonisten, die Situation in der sie leben und wie dieses Situation den Alltag bestimmt, darstellt, wird es immer rasanter und vollgepackter. Jetzt will sich die Story zu einem richtig guten Thriller entwickeln mit allem, was man dafür braucht: Strahlende Heldin, stark und beinahe omnipotent, einen wirklich einfach gestrickten, dummen, dabei aber mächtigen Gegenspieler, eine große Verschwörung und eine – wie schon erwähnt wirklich klischeehafte – Liebesgeschichte.
Das ist das große Problem des Buches, dass sich die Autorin nicht entscheiden konnte, was sie schreiben will: Eine misogyne Dystopie oder einen Politthriller mit Sci-Fi-Elementen.
Für ersteres ist die Story nicht dicht genug, die „neue Welt“ ist nicht komplett durchdacht und viele Fragen bleiben für meinen Geschmack unbeantwortet (im Gegensatz zu Margaret Atwoods Roman). Für letzteres ist die Story zu kurz und zu einfach gestrickt, da hätte ich mir mehr Raffinesse gewünscht. Sprachlich ist das Buch einfach zu lesen und liest sich auch schnell. Das war dann gerade gegen Ende schwierig, als sich die Ereignisse überschlugen.
Insgesamt halte ich das Buch für ein durchschnittlich gutes Buch, auf jeden Fall spannend, mit einem beklemmenden und sehr ernsten Thema, mit dem man sich auseinandersetzen sollte. Leider hat es jedoch keine Stringenz darin, die misogyne Dystopie wirklich aufzuarbeiten und will dann am Ende doch ein actiongeladener Thriller sein. Dem Vergleich mit Margaret Atwoods „Der Report der Magd“ hält Christina Dalchers Buch leider nicht stand.