„Zuvor war ich noch nie am Meer gewesen, geschweige denn auf einer Insel. Ich versuchte mir vorzustellen, dass dieser Ort für die nächsten drei Jahre meine Heimat sein sollte, doch es gelang mir nicht. Ich stand hier, ohne zu wissen, was mich erwartete, und ohne zu wissen, wer mich erwartete.“ (S. 7)
Die neunzehnjährige Jana, die als Vollwaise einige Zeit in Wohngruppen verbracht hat, zieht in ein Wohnprojekt auf der Insel Sylt, das von dem Architekten Klaas Völkner geleitet wird. Er besitzt ein Architekturbüro, in dem die Protagonistin, aus deren Sicht die Geschichte in Ich-Perspektive erzählt wird, eine Ausbildung zur Bauzeichnerin machen wird. Jana wurde in ihrer Kindheit schwer traumatisiert, sie verhüllt ihre Narben mit dicker Kleidung und verdrängt ihre Vergangenheit. Es fällt ihr schwer mit anderen Menschen zu interagieren, sie ist misstrauisch, verunsichert und schweigsam. In einem sehr langen und langsamen Entwicklungsprozess lernt Jana sich zu öffnen. Dazu trägt auch ihr etwas eigenbrötlerischer Mitbewohner Collin bei, der gern friert, ebenfalls in dem Architekturbüro arbeitet und herausragend zeichnen kann.
Der Roman wird in sehr sanften, sehr ruhigen Tönen erzählt. Sprachlich und vom Aufbau her wird der lange und schmerzhafte Entwicklungsprozess, den Jana durchmachen muss, um ihre Vergangenheit eben als solche zu akzeptieren, überzeugt präsentiert, wenngleich er mit seinen über 500 Seiten deutliche Längen hat. Einen klassischen Spannungsbogen gibt es nicht. Der Fokus liegt auf der Gefühlswelt. Spannung wird nur insofern erzeugt, als dass man wissen möchte, was dieser jungen Frau Schlimmes in ihrem Leben zugestoßen ist, wodurch sie so tief traumatisiert wurde, dass sie zu der Person wurde, die sie ist. Denn Jana erzählt uns auch nicht mehr als den anderen Charakteren in dem Roman. Was ich bedauerlich finde, denn die Puzzleteile, die der Leser davon bekommt, machen neugierig. Das kam für mich viel zu kurz. Ich hätte mir viel mehr, vielleicht auch Rückblenden, gewünscht, da das Thema grundsätzlich ungewöhnlich und innovativ ist. Ich habe es erst einmal googeln müssen, um mehr darüber zu erfahren und werde mich noch mehr damit beschäftigen. Für diese Anregung bin ich dankbar.
Sylt als Ort und das Meer werden schön und gekonnt und absolut überzeugend in die Geschichte eingebunden. Die anderen Charaktere aus der Wohngruppe sind so dargestellt, wie Jana sie erlebt. Das ist der große Vorteil der Perspektive, denn ansonsten wären sie viel zu flach. Die Therapeutin fand ich grenzdebil und unprofessionell, die Protagonistin und vor allem ihre Entwicklung sind schlüssig und überzeugend dargestellt, ich habe jedoch lediglich aufgrund ihrer Vergangenheit Mitleid, aber keine Sympathie entwickelt. Ich fühlte mich im letzten Viertel des Romans auch in meinem Urteil bestätigt, denn sie begeht schwerwiegenden Fehler.
Der kämpferische, schweigsame Künstler Collin, der auch mal sagt „mir ist gerade nicht so nach gefühlsduseligem Kram“ war eher mein Fall und bot mehr Möglichkeiten zur Identifikation.
"Wenn du scheiterst“, fuhr Collin fort, der nach wie vor nicht zu frieren schien, „dann gibt es nur einen Weg: Du musst wieder aufstehen. Egal, wie oft, und egal, wie viel Kraft es dich kostet. Du darfst niemals liegen bleiben. Sonst verlierst du." (S. 167)
„Wenn du zurückschlägst, [...] dann musst du so fest zuschlagen, dass der andere keine Chance hat, noch mal gegen dich auszuholen. […] So ein dummes Arschloch aus dem Heim hatte mich fertigmachen wollen. Das Einzige, was ihm etwas auf der Welt bedeutete, war so ein scheiß Brief von seinem scheiß Vater. Also habe ich mir den Brief irgendwann besorgt, als er nicht da war, ihn verbrannt und die Asche auf seinem Schreibtisch gestreut. Er hat zwei Tage geheult. Danach hat er mich nie wieder angefasst.“ (S. 261).
Und da kommen wir zum letzten Punkt, der Liebesgeschichte. Ich werde mit Romance nicht warm. Vielleicht, weil das Meer meiner Emotionen nur knöcheltief ist, vielleicht auch, weil ich zu alt oder zu norddeutsch bin, um diese tiefen und unsteten Gefühlsströme nachvollziehen zu können, die wie Gezeiten daherkommen und sich stündlich ändern. Das Grundschema, zarte und zerbrechliche, traumatisierte und emotional instabile Frau trifft auf Superhelden, der zwar ein bisschen verschlossen ist, aber ihr die starke Schulter bietet, an die sie sich dann anlehnen kann und der ihr der Fels in der Brandung ist, später aber, wenn sie nicht mehr so zufrieden mit ihm ist, gewalttätig wie eine Auster geknackt werden muss, um sein weiches Inneres und seine Geheimnisse zu offenbaren, funktionierte für mich auch noch nie. Das ist aber meine ganz persönliche Meinung, andere mögen es lieben, denn die Liebesgeschichte in diesem Buch ist ganz an dem konventionellen Romance-Schema ausgerichtet. Insgesamt ist es sicher für das Genre ein sehr guter Roman. Dass sich die Autorin auf die Gefühlswelt der Protagonistin konzentriert und der Hintergrundgeschichte entsprechend wenig Raum gibt, gefällt mir persönlich zwar nicht, ist aber ihre erzählerische Entscheidung.
Also für wen ist dieser Roman geeignet?
Absolut für Romance-Leserinnen, die gern eine sehr gut, flott und flüssig geschriebene, gefühlvolle Geschichte mit einer sehr sensiblen Protagonistin lesen möchten. Tee, Kekse, Kerzenlicht. Decke. Katze auf dem Schoß.
Für wen ist dieser Roman nicht geeignet?
Für mich