Rezension zu "Der Vorleser" von Bernhard Schlink
Der gut 200-seitige Roman „Der Vorleser“, der von Bernard Schlink verfasst und erstmals 1997 im Diogenes Verlag veröffentlicht wurde, behandelt eine der großen Fragen der Menschheit: Es geht um Schuld und Vergebung. Kann Liebe alles verzeihen? Oder gibt es Dinge, „auf die man sich einfach nicht einlassen darf“ und die unentschuldbar sind?
In dem Buch geht es um ein ungleiches Paar, das sich zugleich unbeschreiblich nah, doch auch sehr fremd ist. Der fünfzehnjährige Michael verliebt sich, ohne es zu wollen, in Hanna, eine Frau Mitte 30, der er durch Zufall auf dem Schulweg begegnet. Schnell zieht sie ihn in ihren Bann und wird Michaels erste große Liebe. Fast jeden Tag treffen sie sich und Hanna bittet Michael, ihr vorzulesen. Dieser sonderbaren Bitte kommt der junge Mann, der sowieso alles für Hanna tun würde, nur allzu gern nach. Doch eines Tages ist Hanna plötzlich fort, ohne Michael Bescheid zu sagen. Erst viel später sehen sie sich wieder: Er als Jurastudent, sie als Angeklagte bei einem Gerichtsprozess…
Michael, aus dessen Sicht die Geschichte erzählt wird, ist eine sehr greifbare und auf seine eigene Weise auch sympathische Hauptfigur, auch, wenn er alles andere als fehlerfrei ist. Der scharfsinnige, kluge und auch sehr selbstreflektierte Junge, der im Lauf der Geschichte erwachsen wird, hat durchgehend mit Schuldgefühlen und der Angst, versagt zu haben, zu kämpfen. Teilweise hatte ich deshalb großes Mitleid mit ihm, auch wenn ich ihn in anderen Momenten, wenn er sich allzu sehr in Selbstvorwürfen verliert, am liebsten bei den Schultern gepackt und geschüttelt hätte. Auf jeden Fall ist Michael eine jener fiktionalen Figuren, deren Schicksal die Leser alles andere als kalt lässt. Man fühlt, freut sich und leidet mit ihm.
Auch Hanna ist eine äußerst komplexe Figur. Manchmal ist sie herrisch, grob und reizbar, wenig später aber wieder liebevoll und fürsorglich. Sie hat eine Art Verantwortungsgefühl für ihren Freund Michael, der so viel jünger als sie ist, was sie jedoch nicht daran hindert, zugleich über ihn zu bestimmen und dafür zu sorgen, dass er stets die Schuld auf sich nimmt, wenn in ihrer Beziehung mal etwas nicht so funktioniert, wie sie es sich vorgestellt hat. Einige Facetten ihres Charakters bleiben bis zum Ende des Buches ein Rätsel. Warum Hanna eine verzeihliche Schwäche verschweigt, sondern stattdessen lieber in ernsthafte Schwierigkeiten gerät, ist nicht nur Michael, sondern auch mir unbegreiflich. Hanna ist keine Figur, in die man sich gut hineinversetzen kann. Ihre Geheimnisse und ihre dunkle Vergangenheit, die sich Stück für Stück enthüllt, machen das -zumindest für mich- unmöglich. Dennoch ist sie eine spannender Charakter, über den ich auch über die eigentlich Lektüre des Buches hinaus viel nachgedacht habe.
Die Handlung im ersten Teil des Buches besteht hauptsächlich aus sich immer wiederholenden Besuchen Michaels bei Hanna. Als jemand, der aber auch an Jane Austens bekanntermaßen eher handlungsarmen Romanen Gefallen findet, hat mich das jedoch wenig gestört. Ähnlich wie Austen hat Schlink die Handlung hier nämlich zugunsten einer genauen Durchleuchtung seiner Charaktere und ihrer Beziehungen in den Hintergrund treten lassen. Langsam enthüllt er die vielen Facetten der Liebesbeziehung zwischen Hanna und Michael, die zu Beginn noch sehr zärtlich und gefühlvoll wirkt, sich aber immer mehr als ein toxisches Abhängigkeitsverhältnis entpuppt. Im zweiten und dritten Teil des Romans nimmt die Handlung dann jedoch an Fahrt auf: Wir begleiten den jungen Jurastudenten Michael in den Gerichtssaal, wo er plötzlich Hanna auf der Anklagebank wiedersehen muss. Während Michael um Hanna bangt und sich zugleich in Selbstvorwürfen ergeht, wie er denn jemals eine Verbrecherin lieben konnte, waren meine Nerven zum Zerreißen gespannt. Wird Michael in den Prozess eingreifen, den Richtern Hannas Geheimnis verraten und so ihr Strafmaß mildern können? Oder wird er es nicht tun?
Die realistische Schilderung des Gerichtsprozesses trägt ebenfalls dazu bei, dass das Buch im zweiten Teil dann doch noch sehr spannend wird. Man merkt, das der Autor selbst Jurist ist und weiß, worüber er schreibt. Doch auch die gefühlvollen Szenen im ersten Teil sind sehr glaubhaft und lassen nichts an Tiefe vermissen. Ich weiß nicht, inwieweit der Autor hier auf seine persönlichen Erfahrung zurückgreifen konnte, doch falls sie alle seiner Fantasie entsprungen sein sollten, dann ist er in der Lage, seine Vorstellungen sehr lebendig zu schildern.
Der Schreibstil ist eine angenehm lesbare Mischung aus Alltagssprache und gehobenem Wortschatz, weder zu flach, noch zu hochgestochen und macht es möglich, das Buch in kurzer Zeit durchzulesen. An einigen Stellen merkt man an Wortwahl und Satzbau jedoch, dass der Autor sein Buch als literarisches Kunstwerk sieht und die Leser nicht nur, wie andere Autoren, unterhalten und ihnen dabei vielleicht auch noch eine Botschaft mitgeben möchte. Dieser sprachliche Kunstgriff wäre meiner Meinung nach nicht unbedingt nötig gewesen. Durch die Tiefe der Handlung merkt man auch so, dass „Der Vorleser“ alles andere als reine Unterhaltungslektüre ist.
Als Schullektüre ist „Der Vorleser“ durch seinen zugänglichen Schreibstil, die genaue Zeichnung der Hauptfiguren und durch das greifbare, wenn auch zugleich sehr komplexe Thema, meiner Ansicht nach bestens geeignet. An diesem Buch kann man bestens heruminterpretieren und -analysieren. Doch auch in seiner Freizeit kann man getrost zu „Der Vorleser“ greifen, da das Buch zugleich gefühlvoll und spannend ist, ohne dabei je kitschig oder reißerisch zu werden und auch Leser, die sonst vielleicht eher keine modernen Klassiker lesen, hier wirklich etwas für das eigene Leben mitnehmen können.