Ich habe das Gefühl, als hätte ich gerade das Siegerbuch des Deutschen Sachbuchpreises 2021 zu Ende gelesen. Die Preisverleihung wird erst am 14. Juni 2021 sein, bis dahin werde ich dem Autor Andreas Kossert die Daumen drücken. Aber selbst, wenn die Wahl auf einen anderen Titel fällt, werde ich dieses Buch als meinen heimlichen Sieger betrachten und sehr empfehlen. Es ist ein Meisterwerk und ein Wunderwerk zugleich. Kossert ist es gelungen, eine Menschheitsgeschichte zu verfassen, die sich erstens wirklich gut liest und die zweitens den Leser (also mich) mit unendlich vielen Details und Porträts emotional überwältigt. Drittens ist es ein Buch, dass so viel Wissen vermittelt, dass es nicht reicht, es einmal durchzulesen. Man sollte es gedruckt kaufen und immer zur Hand haben. Dieses Buch wirkt wie ein Lexikon, wenn im Fernsehen ein Land, ein Ort, ein Fluchtziel genannt wird, man wird garantiert fündig in diesem Buch, um darüber mehr zu erfahren oder sich zu vergewissern, dass man „davon doch schon einmal gelesen“ hat.
Es gibt wohl in Deutschland nur wenige, die nicht in ihrer Familiengeschichte irgendeine Form von Flucht, Vertreibung, Umsiedlung, Aussiedlung, Exil, Deportation oder sogar Mord mit sich tragen. Manch einer hat vielleicht noch nie von Eltern oder Großeltern erfahren, welche gravierenden Erlebnisse sie oder ihre Vorfahren hatten. Zu oft werden Verletzungen dieser Art verschwiegen. Allein in meiner Familie sind unterschiedlichste Erlebnisse kaum beschrieben worden. Mein Vater schämte sich für seine ursprüngliche polnische Herkunft und behauptete bis an sein Lebensende steif und fest, er sei Nachfahre von Hugenotten, die aus Frankreich vertrieben wurden. Dass meine Großeltern aus Westpreußen als Wirtschaftsflüchtlinge ins Ruhrgebiet kamen, erfuhr ich erst nach seinem Tod. Mütterlicherseits sind die von Kossert beschriebenen Vertreibungen aus den „Ostgebieten“ ein ewiges Trauma geblieben, mein jüdischer Großvater aber „wanderte“ lt. Amtsauskunft in den Osten ab – sein Tod in Auschwitz liegt mir noch heute schwer auf der Seele. Dies nur als Beispiel für die Verknüpfungen, die fast jeder Leser in diesem Buch vielleicht finden wird.
Der Wissenschaftler Andreas Kossert geht die Flucht als Menschheitsgeschichte zuerst über die historischen Ereignisse an, die er brillant und nicht zu ausufernd beschreibt. Die Begriffsdeutung ist hilfreich für das, was folgt. Was den Leser an Informationen auf den ersten gut 120 Seiten erwartet, ist in der Komprimierung der geschilderten Ereignisse mehr als bedrückend. Hinzu kommt, dass man, selbst wenn man sich bis dato gut informiert fühlte, über so viele neue unbekannte historische Ereignisse erfährt, dass es einen fast erschlägt. Für mich waren insbesondere die ethnischen Vertreibungsaktionen in der Türkei und Griechenland sehr erschütternd und eindringlich beschrieben.
In der Folge der historischen Hintergründe reihen sich die Geschichten einzelner Menschen – egal ob Flüchtlinge, Vertriebene, Exilanten – aneinander. Beispiele aus der Literatur geben Anregung zum Weiterlesen. So wie auch das Literaturverzeichnis am Ende des Buches für jeden Interessierten eine Fundgrube ist.
Hier ein Zitat, dass sehr gut auf den Seelenzustand vieler Vertriebener passt: „Diesen inneren Zwiespalt, den die Entwurzelung auslöst, können viele Geflohene niemals überwinden. Sie können an dem neuen Aufenthaltsort keine Wurzeln schlagen, sie sind Geister – im Exil und am alten Ort. Noch nach Jahrzehnten fühlen sie sich heimatlos.“
Egal, ob man über das Schicksal eines schlesischen Bauern liest, oder über die Kinder in Ruanda, die der Ermordung und Vertreibung ihres Dorfes zusehen müssen, es sind immer einzelne Menschen, über die Kossert berichtet, das bringt einem die fernsten Länder näher.
Trotzdem, Flüchtlinge, das sind immer und überall die Anderen, Integration erweist sich oftmals als ein Trugbild, eine neue Heimat finden viele nie, auch wenn sie schon ewig im neuen Land wohnen.
Die Illustrationen und die sehr einfühlsamen Bildunterschriften haben das Buch sehr bereichert.
Danke an Andreas Kossert für dieses Buch, in der heutigen Zeit hochaktuell und für Geschichtsinteressierte eine wahre Fundgrube.
Ein wichtiges Buch, lesen Sie es auch!