Rezension zu "Als lebten wir in einem barmherzigen Land" von A. L. Kennedy
Anna ist Lehrerin einer angesehenen Schule in London und verbringt ihren Berufsalltag angesichts der Corona-Pandemie vor den verpixelten Zoom-Kacheln ihrer Grundschüler und ihren Alltag mit ihrem bei ihr wohnenden, erwachsenen Sohn. Schon immer will Anna, dass es allen gut geht, und so versucht sie Tag für Tag ihre Schüler zu beglücken und auch ihren Sohn Paul bestmöglich zufriedenzustellen. Bereits in ihrer Jugend lebte sie ihre wohlwollende Seite aus, verbrachte viel Zeit als Aktivistin in einer Artistengruppe, die häufig durch Protestaktionen auffiel und die Kriegs- und Sozialpolitik der Regierung anprangerte - jedoch immer auf die friedliche Art. Stets bemühten sie sich, durch die Kunst der Unterhaltung die Menschen auf Ungerechtigkeiten und alle möglichen Arten von Elend und menschenverursachten Leid hinzuweisen und sie dadurch zu motivieren, durch Handeln und Solidarität für Gerechtigkeit zu sorgen sowie durch eigene Selbstlosigkeit zufriedener zu werden. Und bald schon schließt sich ein weiterer Mitstreiter der Artistenguppe an. Bis dato gab es keine groß einschneidenden Vorkommnisse, doch das Neumitglied entpuppt sich als verdeckter Ermittler der Polizei, der zugleich die Rolle des Agent Provocateur aufs Beste auslebt und die Gruppe zu gröberen Straftaten animiert. Das Trauma des Verrats in der Gruppe und der alternden Anna sitzt tief doch nun, mehr als 20 Jahre später, kreuzen sich die Wege zwischen Anna und dem V-Mann erneut. Und die nach wie vor gutmütige Heldin muss sich selbst sowie ihre moralischen Prinzipien hinterfragen: muss man auch unbarmherzigen Menschen gegenüber barmherzig sein?
Ich fand das Buch relativ unzugänglich, da es sich nicht nur sehr komplexen Themen widmet, sondern auch dem Sprachfluss recht schwierig zu folgen war. Ab der zweiten Hälfte lief es zwar wesentlich besser, aber Kennedys Roman ist definitiv ein Werk, für das man sich Zeit nehmen muss - mein Interesse hat jedoch leider nach dem bereits schleppenden Beginn rasant nachgelassen. Thematisch ist der Roman reich bestückt, doch aufgrund dieser Multidimensionalität wird vom Leser hohe Konzentration und so einiges an Hintergrundwissen bezüglich Thatcher-Zeit, des Brexit sowie der heutigen gesellschaft-politischen Notlage innerhalb des Vereinigten Königreichs gefordert. Erzählt wird die Geschichte aus wechselnder Sicht Annas und aus dem Leben des Undercover-Cops namens „Buster“, was für eine gute Portion Auflockerung sorgte. Insgesamt kam mir jedoch der Spannungsbogen zu kurz, und die irgendwie doch insgesamt recht unglaubwürdige und schwer nachzuvollziehbare Geschichte lief relativ zäh vor sich hin. Kennedy drückt sich gewählt und mitunter auch schwer metaphorisch aus, jedoch nicht unbedingt auf die eingängige Art, weshalb bei mir kein Leseflow aufkam, der mich vollends begeistert hat.
Alles in allem ist „Als lebten wir in einem barmherzigen Land“ eine sehr anspruchsvolle Lektüre ohne Page-Turner-Effekt, die mich leider aufgrund ihres überfrachteten Wesens nicht richtig überzeugen wollte, aber sicher seine Liebhaber findet, denn es steckt nicht nur viel Wehmut sondern auch viel Scharfsinn im Kennedys Roman. Streckenweise war es thematisch wirklich interessant, aber leider musste ich mich überwiegend doch sehr durch die knapp 500 Seiten kämpfen und daher wird mir dieser Roman wohl nicht lange im Kopf bleiben.